Energiewende ins Nichts

Hans-Werner Sinn über die Konsequenzen eines Ausstiegs aus der Kerntechnik
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Handelsblatt, 28.03.2011, Nr. 61, S. 56

Während Japan wegen des Tsunami auf sechs Prozent seines Stroms verzichten muss, schaltet Deutschland sieben Prozent freiwillig ab. Wir haben ja unsere Intelligenz und die erneuerbaren Energien. So denken viele.

Aber Vorsicht, der Schein trügt. Unser Land ist zwar schon heute Weltmeister beim Sonnenstrom und Vize beim Windstrom. Es gibt kaum einen Flecken des Landes, wo nicht die Solardächer glitzern und die Windflügel brummen. Dennoch entfallen gerade einmal acht Prozent des Stromverbrauchs oder winzige 1,6 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs auf den Wind- und Sonnenstrom. Wenn man noch das Dusch- und Heizwasser mitzählt, das von der Sonne erwärmt wird, kommt man auf 2,1 Prozent der Endenergie. Nur Wasserkraft und Bioenergie sind etwas ergiebiger, aber sie sind entweder ausgereizt oder wegen der Nahrungsmittelkonkurrenz ins Gerede gekommen. Wer glaubt, durch den Ausbau grüner Energiequellen ließe sich eine moderne Industriegesellschaft versorgen, verweigert sich der Realität.

Es stimmt, dass auch der Atomstrom in Deutschland keine überragende Rolle spielt. Vor der Abschaltung trug er fünf Prozent zur Endenergieversorgung und 23 Prozent zur Stromversorgung bei. Aber der Atomstrom hat den Vorteil, dass er stetig fließt und nicht nur dann zur Verfügung steht, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Bewertet man den Wind- und Sonnenstrom mit dem jeweiligen gesicherten Versorgungsgrad, ergeben sich Versorgungsanteile im Promille-Bereich. Wie weit man mit dem Atomstrom kommen kann, zeigt Frankreich. Dort werden 21 Prozent des gesamten Endenergiebedarfs und 77 Prozent des Stroms atomar erzeugt.

Die Franzosen wollen nun sogar ihre Autos mit Atomenergie betreiben. Wenn Deutschland bei den Elektroautos mitmacht, aber keine Atomautos will, muss es Kohleautos bauen. Denn die Erwartung, man könne auch noch den Verkehr mit Wind und Sonnenlicht betreiben, ist abwegig. Dazu müsste man zigmal so viel Wind- und Sonnenstrom herstellen wie heute. Neben dem Wattenmeer müssten große Teile der Fläche Deutschlands dafür geopfert werden. Kohleautos sind aber Gift für das Klima. Nur wenig besser steht es um die Umwelt, wenn man die Autos mit Gas betreibt, denn auch die Gasautos stoßen erhebliche Mengen an CO2 aus. Der Atomstrom bietet derzeit die einzige Möglichkeit, die Erwärmung der Erde durch den Treibhauseffekt zu verhindern, ohne Deutschlands Naturlandschaften in Industriegebiete zu verwandeln. Wer aus dieser Energie aussteigen will, steht mit leeren Händen da. Selbst Joschka Fischer hat zugegeben, dass die Grünen eine Argumentationslücke haben, wenn sie auf fossilen Strom und Atomstrom gleichermaßen verzichten wollen.

Deutschland sollte jetzt dringend die Erforschung der Kernfusion vorantreiben. Es hat mit seinem Stellerator in Greifswald die Nase vorn, aber es wendet dafür nur ein Sechzigstel der öffentlichen Mittel auf, die die grünen Energien durch die Einspeisesubventionen erhalten. Die Kernfusion gibt konstruktionsbedingt praktisch keine radioaktive Strahlung ab, und sie ist auch nicht mit dem Risiko eines Atomunfalls behaftet.

Bis dahin wird man ohne die konventionelle Atomkraft nicht auskommen können. Sicher ist sie gefährlich. Aber vieles, was Nutzen stiftet, ist gefährlich. Wir fliegen trotz der vielen Flugzeugunglücke, und trotz Tausender Verkehrstoter fahren wir immer noch Auto. Auch sind die Passagierschiffe trotz der Titanic nicht ausgestorben. Man muss die Reaktoren eben sicherer machen. Die neuen Druckwasser-Reaktoren von Flamanville und Olkiluoto haben neben einer Vielzahl von redundanten Sicherungssystemen Core-Catcher, mit deren Hilfe sich sogar die Kernschmelze beherrschen lässt. Außerdem sind sie durch extrem robuste, doppelwandige Containments wirksam gegen Flugzeugabstürze gesichert. Sie sind teuer, aber sie sind eine Alternative.

Man sollte auch das ökonomische Interesse an der Sicherheit wecken. So könnte man den Betreibern von Kraftwerken höhere Haftpflichtversicherungssummen vorschreiben. Nach dem Risiko gestaffelte Prämien böten den Betreibern Anreize, in Sicherheit zu investieren. Dennoch ist das Aufsichtsrecht nicht verzichtbar. Das muss wegen der grenzüberschreitenden Gefährdungen europaweit vereinheitlicht werden. Deutschland braucht keine unüberlegten Hauruck-Maßnahmen, die aus der Emotion des Augenblicks geboren werden, sondern wohlüberlegte Strategien zur Sicherung seiner Energieversorgung.

Der Autor ist Präsident des ifo Instituts.