Hohe Löhne machen Deutschland arm

Bei unmäßigen Tarifabschlüssen müssen die Unternehmen den Personalabbau fortsetzen, was die ganze Volkswirtschaft trifft.
Presseartikel von Hans-Werner Sinn und Wolfgang Wiegard, Süddeutsche Zeitung, 31.12.2005, S. 2

Von verschiedenen Unionspolitikern wurden die Gewerkschaften in den letzten Tagen ermuntert, höhere Löhne zu fordern, damit die Binnennachfrage wieder stimuliert werde. Diese Ermunterung halten wir aus ökonomischer Sicht für gefährlich. In einem Land, das ohnehin schon die zweithöchsten Lohnkosten für Industriearbeiter auf der ganzen Welt hat und das der Niedriglohnkonkurrenz der ex-kommunistischen Länder von Polen bis China in besonderer Weise ausgesetzt ist, kann vor einer expansiven Lohnpolitik im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung nur gewarnt werden. Deutschland war die letzten zehn Jahre das am langsamsten wachsende Land der EU. Die vorgeschlagene Politik würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es seine Schlusslichtposition auch während des nächsten Jahrzehnts beibehält. Die Arbeitslosigkeit hat in Deutschland den höchsten Stand der Nachkriegszeit erreicht. Nur moderate Tarifabschlüsse können einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten.

Je höher die tariflich erzwungenen Lohnkosten sind, desto eher weicht die Wirtschaft aus, indem sie Menschen gegen Roboter austauscht, die arbeitsintensiven Vorproduktstufen durch Vorleistungsimporte aus dem Ausland ersetzt, Kapital exportiert und Produktionsfaktoren aus den arbeitsintensiven Binnensektoren in die kapitalintensiven Exportsektoren überführt. All diese Ausweichreaktionen sind zwar insofern nützlich, als sie Schlimmeres verhindern. Sie erhöhen aber die Arbeitslosigkeit und verlangsamen das Wirtschaftswachstum im Vergleich zu einer Entwicklung, wie sie bei wettbewerblich gebildeten Löhnen zustande gekommen wäre.

Tariflich erzwungene Lohnerhöhungen unterminieren die Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort, denn die nationalen Lohnkosten sind aus volkswirtschaftlicher Sicht der weitaus wichtigste Kostenfaktor der Wirtschaft. Deutschland hatte im Jahr 2004 die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller entwickelten Länder dieser Erde. Vermutlich war das auch im abgelaufenen Jahr 2005 der Fall, trotz einer gewissen Belebung der Investitionsnachfrage in der zweiten Jahreshälfte. In den niedrigen Investitionen liegt eine zentrale Ursache für Deutschlands Probleme. Die Investoren greifen die Kreditmittel, die die Sparer dem Kapitalmarkt zur Verfügung stellen, nicht mehr auf. Die Kapazitäten entwickeln sich zu langsam. Statt dessen fließt das Sparkapital ins Ausland, was sich in Form eines sehr hohen Leistungsbilanzüberschusses zeigt. Deutsche investieren derzeit mehr im Ausland als im Inland.

Niedrige Investitionen bedeuten nicht nur, dass die Produktionskapazität kaum noch wächst und nicht genug neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie sind zudem der wichtigste Grund für die schwache Binnennachfrage, die gemeinhin beklagt wird. Investitionen sind nämlich Nachfrage nach Bauleistungen, Maschinen und anderen Produkten der Investitionsgüterindustrie, bevor sie ihre Kapazitätseffekte entfalten. Nur durch eine zurückhaltende Lohnpolitik lässt sich dieser Teil der Binnennachfrage wieder stärken.

Man mag befürchten, dass eine zurückhaltende Lohnpolitik die Konsumnachfrage behindert und dass insofern auch die Investitionen zurückgedrängt werden, weil Investitionen dazu dienen, Konsumgüter zu produzieren. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet. Investitionen werden nämlich nicht nur getätigt, um Konsumgüter zu produzieren, sondern auch, um Investitionsgüter herzustellen. Sicher, letztlich dienen alle Investitionen zusammen genommen dem Konsum. Für die Investitionen von heute kommt es aber auf den erwarteten Konsum von morgen an. Ein höherer Konsum in der Zukunft erfordert einen Konsumverzicht in der Gegenwart, der durch eine höhere Nachfrage nach Investitionsgütern ausgeglichen wird. Eine Gesellschaft, die ihren Konsum dauerhaft wachsen lassen will, muss ihn zunächst reduzieren. Sie muss dauerhaft einen höheren Prozentsatz ihres Sozialprodukts sparen und investieren, um auf diese Weise ihren Kapitalstock und mit ihm das Sozialprodukt, das Lohnniveau und den Konsum schneller anwachsen zu lassen. Nur eine zunächst zurückhaltende Lohnpolitik, die Deutschlands Lohnkosten in das Mittelfeld der westlichen Industrieländer zurückführt, passt zu einer solchen Entwicklungsstrategie.

Diese Politik führt nicht zur Verarmung der Arbeitnehmerschaft und zu sozialen Konflikten. Es gibt nämlich Wege, die Arbeitnehmer und die Bevölkerung im Ganzen an den wachsenden Spezialisierungsgewinnen, die die Globalisierung ermöglicht, teilhaben zu lassen, auch wenn die ausgezahlten Lohneinkommen zunächst hinter der Produktivitätsentwicklung zurück bleiben.

Hierzu ist einerseits eine Politik der aktivierenden Sozialhilfe notwendig, die den besonders vom Lohndruck betroffenen Geringverdienern unter die Arme greift und eine Lohnspreizung nach unten ermöglicht, ohne dass zugleich die Einkommen nach unten gespreizt werden. Das ifo Institut und ähnlich auch der Sachverständigenrat haben dazu entsprechende Vorschläge vorgelegt, die vom Bundespräsidenten unterstützt wurden. Es wird Deutschland nicht gelingen, die Kräfte der Globalisierung auch in Zukunft zum eigenen Vorteil umzumünzen, wenn es den Sozialstaat weiterhin auf der Idee des Lohnersatzes zu gründen versucht. Ein auf Lohnersatz ausgerichtetes System der Einkommenssicherung macht die Löhne rigide, und bei rigiden Löhnen wächst die Arbeitslosigkeit, die das Land finanziell kaum noch beherrscht, immer weiter. Nur eine partnerschaftliche Strategie, bei der der Staat seine Hilfe fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben zur Verfügung stellt, kann Erfolg versprechen.

Zum anderen ist die kürzlich ebenfalls vom Bundespräsidenten ins Spiel gebrachte Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen zu empfehlen. Statt zusätzlicher Barlöhne könnten die Tarifpartner zusätzliche Sparlöhne aushandeln, wie sie schon in Tausenden deutscher Unternehmen in Deutschland freiwillig gezahlt werden. Sie könnten langfristige Tarifvereinbarungen treffen, die den heute bereits beschäftigten Arbeitnehmern Einkommenszuwächse ermöglicht, ohne damit zugleich neue Arbeitsverhältnisse teuerer zu machen und zu verhindern. Es ist höchste Zeit, in der Tarifpolitik und in der Sozialpolitik neue Wege zu beschreiten, um das Land wieder aus der Sackgasse herauszuführen, in die es durch die falschen Weichenstellungen in den siebziger und achtziger Jahren geraten ist. „Ein ordentlicher Schluck aus der Lohnpulle“ ist mit Sicherheit der falsche Weg.