Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel,

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 28.11.2011, Nr. 48, S. 46

DENKFABRIK | Nach ihrem Kurswechsel in der Energiepolitik räumt die Union jetzt auch eine zentrale Position in der Arbeitsmarktpolitk – und will einen Mindestlohn durchsetzen. Ein offener Brief von ifo-Präsident Hans-Werner Sinn an Kanzlerin Angela Merkel.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel,

die Strategie, der Opposition Stimmen abzujagen, indem man ihre Position übernimmt, kennen wir seit Nixons China- Besuch. Auch Helmut Kohl hat sie mit der Ernennung von Norbert Blüm zum Bundesarbeitsminister gewählt. SPD-Kanzler Gerhard Schröder erfand und realisierte die Agenda 2010 und zog mit den Grünen in den Bosnien- Krieg. Ich vermute, Sie lassen deswegen die deutschen Atomkraftwerke abschalten und wollen nun den Mindestlohn.

Bedenken Sie aber, dass es nicht nur um Wählerstimmen geht. Man braucht auch seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Die Wirtschaftshistoriker, die später urteilen, lassen sich nicht von Wahlerfolgen blenden. Wenn man bei den Historikern durchfällt, ist das auch nicht gerade schön.

Sie sollten deshalb aufpassen, dass Sie nicht als Kanzlerin in die Geschichte eingehen, die Deutschlands Wohlstand verspielt hat. Der Ersatz der Atomkraftwerke durch grüne Technologien kostet uns einige 100 Milliarden Euro. Die vermeintliche Euro-Rettung bedeutet für Deutschland schon jetzt ein Haftungsrisiko von bald 600 Milliarden Euro. Und nun will die Union auch noch einen Mindestlohn durchsetzen, der volkswirtschaftlich schädlich ist und nicht nur die Jobchancen von Ungelernten und Langzeitarbeitslosen ruinieren würde. Der Mindestlohn unterhöhlt die Basis der neu gewonnenen Prosperität unseres Landes .

Ihr Vorgänger Gerhard Schröder hat mit seinen Reformen den impliziten Mindestlohn gesenkt, der im deutschen Lohnersatzsystem lag. Schröder schaffte die Arbeitslosenhilfe ab und stufte rund viereinhalb Millionen Personen auf die Sozialhilfe herunter, die seither Arbeitslosengeld II heißt. Zugleich hat er den Tarif des neuen Arbeitslosengeldes so verändert, dass heute 1,4 Millionen Arbeitnehmer Lohnzuschüsse beziehen. Seitdem gibt es weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen. Das hat den (impliziten) Mindestlohn, zu dem ein Arbeitsplatz im Vergleich zur Stütze noch als attraktiv erschien, gesenkt. Die Lohnskala spreizte sich nach unten hin aus, und es begann eine Phase der Lohnzurückhaltung, durch die Deutschland relativ zu seinen Wettbewerbern im Euroraum immer billiger wurde. Wir erlebten eine „reale Abwertung“, wie der Ökonom sagt.

Wie jede Abwertung hat auch diese die Wirtschaft wieder flott gemacht. Der Trend einer seit Willy Brandt steigenden Massenarbeitslosigkeit wurde gebrochen – und Deutschland wurde zum neuen Musterknaben in Europa. Nirgendwo sonst ging die Arbeitslosigkeit in den vergangenen fünf Jahren so stark zurück wie bei uns. Was von interessierter Seite stets bestritten wird, dass nämlich ein Anstieg der (Mindest-)Löhne Jobs kostet und eine Senkung Arbeitsplätze schafft, belegt die jüngere deutsche Geschichte mit allem Nachdruck.

Bitte lassen Sie nicht zu, dass sich der linke Flügel Ihrer Partei mit leichtfertigen Sprüchen über harte ökonomische Gesetze hinwegsetzt, nur um ein paar unkundigen Wählern, die das alles halt anders sehen, hinterherzulaufen!

Einer dieser Sprüche ist, dass jeder von seiner Hände Arbeit leben können muss. Ich habe diesen Spruch kritisiert, als er von einer anderen Partei kam, und ich tue es genauso, wenn er aus der Ihren kommt. Er ist falsch, weil er darauf hinausläuft, jenen die Arbeitsplätze wegzunehmen, deren Gunst man sucht. Er übersieht, dass es in einer Marktwirtschaft keine Gesetzmäßigkeit gibt, die Vollbeschäftigung zu Löhnen schafft, die den gesellschaftlichen Vorstellungen eines angemessenen Lebensstandards genügen. Ein Lohn, der das leistet, liegt über der Produktivität mancher denkbarer Arbeitsplätze – und verhindert, dass diese entstehen.

Frau Bundeskanzlerin, 2008 haben Sie häufig gesagt, jeder, der arbeiten wolle, müsse arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Das ist ein viel besseres Postulat. Denn es lässt zu, dass das Einkommen um den Lohnzuschuss über dem Lohn liegt. Dann kann das Entgelt für die geringste Arbeit so niedrig sein, dass es sie überhaupt gibt. Und das Einkommen doch so hoch, dass es reicht.

Nun wollen Sie zwar keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn, sondern die Tarifpartner über eine Lohnuntergrenze entscheiden lassen. Doch das hört sich besser an, als es ist. Die Tarifpartner sollen ja nicht über ihre eigenen Betriebe, sondern über fremde Unternehmen bestimmen, die keine Tariflöhne zahlen. Und natürlich werden die Tarifpartner neue Mindestlöhne recht hoch ansetzen – damit die Konkurrenten gar nicht erst zum Zuge kommen.

Liebe Frau Merkel, nach der Wiedervereinigung gingen West-Gewerkschaften und West-Arbeitgeber in den Osten und legten die Löhne für ihre potenziellen ostdeutschen Wettbewerber fest. Sie wissen, welches Fiasko entstand, als die Tarifparteien vereinbarten, die Ostlöhne in nur fünf Jahren mitsamt aller Nebenleistungen an das Westniveau anzugleichen – auch damit die Japaner, die sich für Treuhandfirmen interessierten, keine Wettbewerbsvorteile haben würden. Bekanntlich kamen die Japaner und viele andere Investoren nicht. Es entstand Massenarbeitslosigkeit, die zu umfangreichen Wanderungen gen Westen führte.

Können Sie es verantworten, diesen Fehler zu wiederholen? Denken Sie an die Geschichtsbücher.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Hans-Werner Sinn