Finsterer Merkantilismus

Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche 09.02.2006, S. 142

Hans-Werner Sinn über Deutschland als Nettozahler und die Gewinner der EU

Es gibt Aussagen, die einen Ökonomen in Rage versetzen können. Dazu gehört die Topmeldung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” vom 1. Februar 2006 zu den angeblichen deutschen Gewinnen aus der EU-Mitgliedschaft. Die Meldung suggeriert, dass Deutschland seine Nettozahlungen an die EU getrost fortsetzen könne und nicht zögern dürfe, die neuen, von der EU geplanten Nebenhaushalte zu finanzieren, weil Deutschland einen so großen Handelsbilanzüberschuss mit den anderen EU-Ländern habe. Mit einem Überschuss von rund 125 Milliarden Euro gegenüber den EU25 sei unser Land im Jahr 2004 der größte Profiteur der EU gewesen. Dagegen nehme sich die deutsche Nettozahlung an die EU von 7,1Milliarden Euro geradezu bescheiden aus.

Die „FAZ” bezieht sich auf eine von der Europa-Union Deutschland finanzierte interdisziplinäre Studie zu den Kosten und Nutzen der EU für die Bundesrepublik Deutschland. Dabei haben die beauftragten Forscher keineswegs so einfältig argumentiert, wie es die Meldung vermuten lässt. Doch gerann die zitierte Aussage zur Plattitüde, als die europafreundlichen Stellungnahmen der Forscher über ein politisches Vorwort und eine nachfolgende Presseerklärung zu einem kurzen Zeitungsartikel verdichtet wurden. Wenn Kinder „stille Post“ spielen, ist es ähnlich.

Was ist falsch an der These, der Handelsbilanzüberschuss zeige, wie Deutschland von der EU profitiert? Ist dieser Überschuss nicht ein Gewinn für Deutschland, der auf ähnlicher Stufe steht wie ein möglicher Verlust aus den fiskalischen Nettozahlungen? Die Antwort lautet nein, denn der Handelsbilanzüberschuss ist ein Teil des Außenbeitrages, der den Überschuss der Exporte von Waren und Leistungen über die Importe misst, und dieser Außenbeitrag ist gleich der Summe aus dem Kapitalexport und den laufenden Übertragungen an das Ausland, von geringfügigen Änderungen der Devisenbestände einmal abgesehen. Ein Land, das dem Ausland Ressourcen schenkt oder leiht, muss netto Ressourcen dorthin liefern.

So ist der deutsche Exportüberschuss mit der EU zu einem Fünftel erforderlich, um Geschenke an andere EU-Länder einschließlich der besagten Nettotransfers an die EU zu machen, und zu vier Fünfteln, um Investitionskapital in andere EU-Länder zu transferieren. Der Exportüberschuss kennzeichnet den Ressourcenabfluss, durch den sich diese Finanztransfers materialisieren. Den schon stattfindenden Ressourcenabfluss als Beleg für Handelsgewinne zu nehmen und als Begründung für weitere Ressourcenabflüsse anzuführen, zeugt von finsterstem Merkantilismus. Der Europa-Idee kann man dadurch nur Schaden zufügen.

Natürlich profitiert Deutschland von der EU. Die politische Stabilität und die Friedenssicherung, die mit der Schaffung der EU einhergingen, sind mehrwert als schnöder Mammon. Auch stimmt es sicherlich, dass wir Handelsgewinne in Formverbesserter internationaler Arbeitsteilung haben erzielen können. Wenn Heerscharen von deutschen Urlaubern mitten im Winter in die Kanaren einfallen dürfen, ist das schon den einen oder anderen Mercedes wert. Über den Tausch freuen sich Deutsche und Spanier gleichermaßen, denn beide können so ihren Lebensstandard steigern.

Die Behauptung freilich, dass Deutschland besonders viel von der EU profitiere und deshalb auch am meisten zahlen könne, ist wenig überzeugend. Die EU ist nämlich eine Institution, die besonders den kleineren europäischen Ländern nützt. Sie ist eine Einrichtung zur Überwindung der Nachteile der Kleinheit. Das gilt nicht nur für die EU-Gremien, wo die kleinen EU-Länder im Verhältnis zu ihrer Größe dramatisch überrepräsentiert sind. Es gilt vor allem auch in ökonomischer Hinsicht.

Am deutlichsten sind die Vorteile der kleinen Länder aus der Vergrößerung der Märkte und der Möglichkeit, Kostendegressionsvorteile auszunutzen, was ja seinerzeit im Cecchini-Bericht über den Binnenmarkt, wenn auch mit einem anderen Tenor, in den Mittelpunkt gestellt wurde. Deutschland verdankt die traditionelle Stärke seiner Industrie vor allem auch der Größe seines eigenen Binnenmarktes. Frühzeitig konnte man Größenvorteile bei der Industrieproduktion realisieren und dann die Weltmärkte erobern.

Die kleineren europäischen Länder hatten wegen der Enge ihrer eigenen Binnenmärkte keine vergleichbaren Möglichkeiten. Mittlerweile sind die Sondervorteile der deutschen Industrie aber verschwunden; das Terrain wurde für einen fairen Wettbewerb geebnet. Anbieter aus Irland, Finnland, Österreich oder Luxemburg haben nun Zugang zu den gleichen 450 Millionen EU-Konsumenten, die auch einem deutschen Anbieter zur Verfügung stehen.

Man denke nur an die finnische Fernsehfirma, die 1990 kurz vor dem Konkurs stand und heute die größte Börsenkapitalisierung der EU aufweist. Ohne die EU, auf der Basis des finnischen Binnenmarktes, hätte Nokia seinen Erfolg nicht haben können. Die Patente hätte man vermutlich an Siemens verkauft. Die Handys wären heute vielleicht etwas größer, aber Siemens wäre die Nummer Eins in Europa. Tatsächlich hat Siemens seine Handy-Produktion gerade aufgegeben.

Die Abschaffung der Sondervorteile der großen Länder, allen voran Deutschlands, ist gut für Europa. Alle Firmen der EU stehen heute zu gleichen, fairen Bedingungen im Wettbewerb, und endlich kann sich der Kontinent in seiner gesamten Breite wirtschaftlich entfalten. Doch so richtig diese Aussage ist, so wenig ist sie geeignet, Sonderzahlungen Deutschlands an die EU zu legitimieren. Ein bisschen weniger Blauäugigkeit und ein bisschen mehr ökonomischen Sachverstand könnte man der deutschen Europa-Debatte schon gönnen.