Verführerische Höhle

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Financial Times Deutschland, 23.01.2002, 28

Das von der Bundesregierung geplante Kombilohn-Modell setzt an der richtigen Stelle an. Doch um einen funktionierenden Niedriglohnsektor in Deutschland zu schaffen, müssen Fehlanreize beseitigt werden - dazu sind umfassende Reformen nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten nötig

Von Hans-Werner Sinn

Nun ist es offiziell: der Arbeitsmarkt für Niedriglöhne funktioniert nicht. Sonst hätte die Regierung nicht die Ausweitung des Mainzer Modells auf ganz Deutschland beschlossen. Erstmals hat sich nach den USA, Großbritannien, Finnland und Frankreich auch die Bundesrepublik zu einer aktivierenden Sozialpolitik bekannt, die darauf basiert, dass statt des Nichtstuns die Arbeit subventioniert wird.

Sozialpolitik heißt, dass man den Armen Geld gibt, das man den Reichen weggenommen hat. Das ist im Prinzip auch in Ordnung, denn so wird die Unsicherheit der Lebensrisiken in einer Weise verringert, wie es die private Versicherungswirtschaft nicht vermag. Das Problem ist nur, dass die Umverteilung die Anreize der Geber und Nehmer verzerrt und deshalb den Kuchen, der zu verteilen ist, verkleinert. Deshalb darf man Sache nicht übertreiben und deshalb sollte man die Umverteilung so organisieren, dass die Leistungsbereitschaft der Bürger dabei möglichst wenig gehemmt wird.

In welchem Maße der Sozialstaat die Leistungsbereitschaft senkt, hängt nicht nur davon ab, wie stark er die Leistungsträger am oberen Ende der Einkommensskala besteuert, sondern auch damit, wie er am unteren Ende Armut definiert, die zu Sozialansprüchen führt. In Deutschland wird Armut vor allem so verstanden, dass man keinen Arbeitsplatz hat. Unser Sozialsystem ist deshalb als ein System der Lohnersatzleistungen ausgestattet. Armut lässt sich aber auch so definieren, dass man nur über eine geringe Leistungskraft verfügt und deshalb trotz fleißiger Arbeit nur ein geringes Einkommen selbst erwirtschaften kann. Wenn dies die Armutsdefinition ist, dann bietet es sich an, den betroffenen Menschen nicht Lohnersatzleistungen, sondern Lohnergänzungsleistungen zukommen zu lassen. Nach dem Motto: Arbeiten muss jeder, aber wer dabei nicht genug verdient, dem wird geholfen.

Lohnergänzungsleistungen bieten den Anreiz zu arbeiten. Lohnersatzleistungen tun das Gegenteil, denn sie subventionieren das Nichtstun und erzeugen Arbeitslosigkeit. Das ist kein moralischer Vorwurf an die Betroffenen, sondern ein harter ökonomischer Mechanismus, dem man sich nur entziehen könnte, wäre man irrational. Lohnersatzleistungen definieren Mindestansprüche für Marktlöhne, denn niemand ist bereit, einen Job anzunehmen, der weniger Einkommen bietet, als man ohne zu arbeiten vom Staat erhält.

Da umgekehrt kein Unternehmer jemanden einstellt, dessen Wertschöpfung kleiner als der geforderte Lohn ist, folgt, dass Menschen, deren Wertschöpfung unterhalb der Lohnersatzleistungen liegt, niemals vermittelbar sind. Sie sind zur Untätigkeit verdammt, kassieren die Ersatzleistungen und können sich allenfalls am Schwarzmarkt zu niedrigem Lohn verdingen. Das alles wäre kein Problem, wenn die Lohnersatzleistungen so niedrig wären, dass nur wenige Menschen betroffen sind. Leider ist das aber nicht der Fall. in der Summe gibt es derzeit knapp drei Millionen Sozialhilfeempfänger, von denen nach der heute gängigen Definition eine knappe Million als arbeitsfähig einzustufen sind.

Abbildung 5 zeigt, dass die Sozialhilfe und das damit verbundene Wohngeld bei einer Alleinverdienerfamilie mit zwei Kindern in Westdeutschland bei etwa 73 Prozent des durchschnittlichen Nettolohnes liegt. Cum grano salis gilt deshalb, dass ein Westdeutscher, dessen Produktivität weniger als etwa 70 Prozent des Durchschnitts beträgt, grundsätzlich nicht legal beschäftigt werden kann. Das ist nicht nur ineffizient, weil wertvolle menschliche Arbeitskraft brach liegt, es bedeutet zudem eine Missachtung der Menschenwürde.

Die Subventionierung der Arbeit, wie sie mit dem Mainzer Modell geplant ist, hilft das Problem zu lindern, denn sie senkt die Anspruchslöhne, zu denen die Betroffenen bereit sind, Arbeit aufzunehmen. Das vergrößert die Zahl der Jobs, bei denen die Lohnkosten die Wertschöpfung unterschreiten, ohne dass der Nettolohn zugleich unter den Sozialhilfesatz fällt, und die deshalb von Unternehmern geschaffen werden. Voraussetzung ist freilich, dass die Subvention auch tatsächlich über Lohnsenkungen an die Arbeitgeber weitergegeben wird.

Wenn die Arbeitnehmer das Geld nur selbst in die Tasche stecken, wird kein Beitrag zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems geleistet. Arbeitslosigkeit heißt nicht, dass es an Menschen fehlt, die arbeiten wollen, sondern an Arbeitsplätzen, die für diese Menschen zur Verfügung stehen. Deshalb kann das Modell nur in dem Maße wirken, wie es tatsächlich zu einer Lohnsenkung kommt. Andernfalls ist allein ein Drehtüreffekt zu erwarten. Die vom Staat Begünstigten drängen sich in den Arbeitsmarkt hinein und nehmen den Platz von anderen ein, die auf dem Umweg über eine temporäre Arbeitslosigkeit dann ebenfalls in den Genuss der Förderung kommen können. Der Drehtüreffekt könnte die Erklärung für den gemessenen Erfolg bei der Inanspruchnahme des Mainzer Modells in den wenigen Arbeitsamtbezirken gewesen sein, in denen das Modell getestet wurde. Für eine wirkliche Verbesserung der Arbeitslosenzahlen ist die Schaffung neuer Niedriglohntarife in den Lohnverhandlungen oder doch zumindest die Aufhebung der Gemeingültigkeit der Tarifvereinbarungen daher eine unerlässliche Voraussetzung.

Wenngleich das Mainzer Modell vom Grundsatz her an der richtigen Stelle ansetzt, sind die von ihm ausgehenden Fehlanreize gravierend. Zwar lohnt es sich, die Förderschwelle durch Mehrarbeit oder eine Qualifizierung, die zu höheren Löhnen führt, zu überspringen, aber wenn man sich bereits im Förderbereich befindet, dann ist es kaum noch sinnvoll, weitere Anstrengungen zu unternehmen. Dies wird klar, wenn man einmal untersucht, wie sich das Mainzer Modell in das Förder- und Abgabensystem eingliedert, dem sich ein deutscher Arbeitnehmer ausgesetzt sieht, wie in Abbildung 1 geschehen. Die Grafik zeigt die bekannte Armutsfalle: Das Nettoeinkommen steigt mit dem Bruttoeinkommen zwar zunächst ein wenig, bleibt dann in einem Bereich von 700 € bis 1700 € konstant. Der Grund hierfür ist, dass die Sozialhilfe eins zu eins um das selbst verdiente Einkommen gekürzt wird. Die Grenzbelastung des Einkommens liegt bei 100 Prozent. Erst bei einem Einkommen von 1700 € wird der Sozialhilfebereich verlassen, und das Nettoeinkommen steigt mit dem Umfang der um Steuer und Abgaben gekürzten Bruttoeinkommenssteigerung.

Mit der gestrichelten Kurve zeigt die Abbildung den Einfluss des Mainzer Modells, der ab dem Einkommen von 325 € zum Tragen kommt. Da der Arbeitnehmerbeitrag zur Sozialversicherung dort erstattet und gleichzeitig ein Zuschlag zum Kindergeld gewährt wird, steigt das Nettoeinkommen sprunghaft an, wobei davon ausgegangen wird, dass die Förderung nicht zu einer Kürzung der Sozialhilfeansprüche führt. Die Förderung erreicht bei einem Einkommen von 650 € ein Maximum von 287 €. Danach wird sie bis zu einem Einkommen von 1940 € vollständig abgeschmolzen.

Abbildung 4 zeigt das Ergebnis umfangreicher Berechnungen, die am Ifo-Institut durchgeführt wurden, um den Verlauf der Grenzabgabenbelastung mit und ohne Mainzer Modell zu ermitteln. Diese Abgaben belasten die Wertschöpfung, die die Arbeit erzeugt, und unabhängig davon, ob sie vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer zu zahlen sind, rufen sie einen Anreiz hervor, in die Schwarzarbeit zu wechseln oder das Arbeiten ganz zu unterlassen.

Man sieht, dass die Grenzbelastung im Bereich der Sozialhilfe eins ist, dann auf etwa 55 Prozent sinkt und schließlich wegen der Progression des Einkommensteuertarifs wieder steigt. Der Arbeitnehmer mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von etwa 2750 € trägt eine Grenzbelastung von 66 Prozent. Besonders problematisch ist die Grenzbelastung von 100 Prozent, die nach heutiger Rechtslage im Bereich der Einkommen unterhalb der maximalen Sozialhilfe durch die Anrechnung des Arbeitseinkommens entsteht. Sie bedeutet, dass jeglicher Anreiz, sich anzustrengen und durch Qualifikation oder Mehrarbeit mehr zu verdienen, erlischt.

Die hohen Grenzbelastungen sind für die Wachstumsschwäche wesentlich verantwortlich. Die alte Behauptung, man brauche mehr Wachstum, um mehr Beschäftigung zu haben, dreht sich unter diesen Verhältnissen um. Man braucht mehr Beschäftigung, um mehr Wachstum zu erzeugen. Ein Mehr an Beschäftigung schafft ein Mehr an Einkommen und Nachfrage, was dem Mehr an Produktion genau entspricht. Das Saysche Gesetz gilt auch hier.

Mit der Einführung des Mainzer Modells will die Regierung nun endlich handeln. Wie die Abbildung mit der gestrichelten Kurve zeigt, ändert das Mainzer Modell den Verlauf der Grenzbelastungen im unteren Einkommensbereich erheblich. Die Grenzbelastung geht bei einem Einkommen von 325 € auf einen negativen Wert. Dies wird viele veranlassen, sich zu bemühen, dieses Einkommen zu überschreiten. Das Problem ist jedoch, dass die Grenzbelastung danach wieder steigt und im Bereich der Abschmelzung des Programms bei deutlich über 100 Prozent liegt. In der Spitze errechnet man gar eine Grenzbelastung von 124 Prozent. Wer eine zusätzliche Arbeitsleistung im Wert von 1 € erbringt, muss akzeptieren, dass er ärmer wird, denn er hat netto 24 Cent weniger in der Tasche als vorher.

Tücken des Systems

Die Absurdität des Systems zeigt Abbildung 2. Man sieht, dass man auch ohne Anstrengung in Form der Sozialhilfe bereits sehr viel Nettoeinkommen erhält, dass aber vor einer weiteren Steigerung des Nettobetrags eine steile Abbruchkante von der Art der Eiger-Nordwand zu überwinden ist - man braucht riesig mehr Brutto, um ein wenig mehr Netto zu verdienen. Den Aufstieg über diese Kante schaffen viele nicht, deshalb stecken sie in der Armutsfalle. Das Mainzer Modell, das in seinen Wirkungen wieder gestrichelt dargestellt wird, gräbt eine Höhle in Wand. In diese Höhle kommt man mit mäßigen Mühen wohl herein, aber um auch wieder herauszukommen, muss man an der oberen Höhlenwand um einen Felsüberhang herum weiterklettern, was kaum einer schafft.

Um den Berg besteigbar zu machen, darf man keine Höhle graben - vielmehr muss man einen Weg aufzuschütten und die Abbruchkante wegsprengen, wie es in der Abbildung 3 dargestellt wird. Man muss die Sozialhilfe-Eingangssätze verringern und das eingesparte Geld dazu verwenden, sowohl die Transferentzugsrate als auch die Grenzabgabenlast im Eingangsbereich des Steuertarifs zurückzunehmen. Für das Nichtstun gibt es weniger, doch wenn man selbst ein Arbeitseinkommen erwirbt, bleibt vom Erworbenen mehr übrig. Dies ist die Methode, die die USA mit ihrem Earned Income Tax Credit gewählt haben.

Drei Stufen zum Erfolg

Wenn man den Niedriglohnsektor funktionsfähig machen möchte, führt in Deutschland an einer grundlegenden Reform, die in die Richtung des US-Modells geht, kein Weg vorbei. Das Niveau der in den USA gewährten staatlichen Leistungen ist aus deutscher und europäischer Sicht unzureichend, aber die Anreizmechanismen kann man kopieren. Das Ifo-Institut hat dazu ein dreistufiges Modell vorgeschlagen. Die erste Stufe besteht aus einer deutlich abgesenkten Sozialhilfe für Erwerbsfähige, die, aus welchen Gründen auch immer, keinen Job haben. Die Sozialhilfe ist so niedrig, dass der Verbleib in dieser Stufe unattraktiv ist.

Die zweite Stufe umfasst die Unterstützung für eine Beschäftigung in der Privatwirtschaft in Form einer Lohnergänzungsleistung. Die Lohnergänzung ist so bemessen, dass man in der Summe aus staatlichem Geld und privatem Lohn mehr als bei der heutigen Sozialhilfe erzielt, wenn man voll arbeitet. Das so definierte System beseitigt die Lohnuntergrenze, die in der derzeitigen Sozialhilfe angelegt ist, und lässt die Löhne auf ein Niveau fallen, das der niedrigen Produktivität der Betroffenen entspricht und deren Beschäftigung ermöglicht. In einem Eingangsbereich niedriger Einkommen wird das privat erzielte Arbeitseinkommen bezuschusst, ohne dass irgendwelche Abgaben anfallen. In einem weiteren Bereich bleibt der Zuschuss konstant, so dass der Arbeitnehmer von dem zusätzlich verdienten Geld nichts abgezogen bekommt.

Danach kommt ein Abschmelzungsbereich, in dem der Zuschuss allmählich wieder zurückgeführt und in eine Nettozahlung an den Staat in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen überführt wird. Sollen die angestrebten Beschäftigungseffekte erreicht werden, darf es indes keine anderen Barrieren geben, die ein Absinken der Löhne im unteren Bereich verhindern. Die Tarifpolitik muss daher mitmachen, und wenn sie es nicht tut, muss der Staat tariffreie Zonen erzwingen.

Die langfristigen Wirkungen der Umstellung sind insbesondere für die heutigen Sozialhilfeempfänger vorteilhaft. Sie werden nicht nur in die Arbeitsgesellschaft eingegliedert, sondern erzielen zudem ein höheres Einkommen. Dabei wird die Sache für den Staat nicht teuerer. Zwar werden viele Menschen zu fördern sein, doch der Fördersatz pro Person kann viel niedriger sein als bei der heutigen Sozialhilfe, weil ja Markteinkommen verdient werden.

Allerdings braucht man wie bei jeder strukturellen Reform einen langen Atem. Bis zur vollständigen Anpassung des Arbeitsmarktes werden die so geschaffenen Jobs nicht ausreichen können, um allen bisherigen Sozialhilfeempfängern Arbeit in der Privatwirtschaft zu geben. Um das Problem in den Griff zu bekommen, muss der Staat selbst Jobs zur Verfügung stellen. Die dritte Stufe des Ifo-Modells sieht deshalb vor, dass der Staat genügend Beschäftigungsmöglichkeiten anbietet. Der Lohn für diese Jobs ist so bemessen, dass er zusammen mit der beschriebenen Lohnergänzungsleistung das heutige Sozialhilfeniveau erreicht. Dann kann keiner sagen, er müsse unter dem Existenzminimum leben, und doch hat der Bezug des staatlichen Geldes erheblich an Attraktivität verloren. Mit den staatlichen Jobs wird nicht nur der Schwarzarbeit der Boden entzogen, es kann auch Nützliches geschaffen werden.

Es entspricht nicht dem Geist unserer Sozialgesetze, Bedürftigen nur unter der Bedingung zu helfen, dass sie sich selbst zurücklehnen. Dennoch ist die praktische Sozialpolitik bislang so gestaltet worden. Dieser Unsinn muss ein Ende haben. Eine partielle Reform nach dem Mainzer Modell, die die Betroffenen in die Höhle der Eiger-Nordwand lockt und dort gefangen hält, verkorkst das ganze System nur noch mehr.

HANS-WERNER SINN leitet das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung.