Deutschland ist der kranke Mann Europas

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Bild-Zeitung, 21.04.2004, S. 2

Unser klügster Wirtschafts-Professor schlägt Alarm

Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in schwerer Krise, die Arbeitslosigkeit steigt und dennoch drängen die Armen der Welt in unser Land.

Ein europäischer Nachbar nach dem anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim Wachstum, außerstande, mit Österreich, Holland, England oder Frankreich mitzuhalten

Beim Tourismus bleiben die Deutschen Weltmeister, und ihre Kreuzfahrtschiffe durchpflügen die Ozeane trotziger denn je. Das Rentensystem wird verteidigt, obwohl Kinder, die es finanzieren könnten, fehlen.

Die Politik blendet die Probleme aus: Die Arbeitslosigkeit wird in Frühverrentungsmodellen versteckt, die Zahlen aus Nürnberg werden mit neuen Messmethoden verkleinert, das Staatsbudget wird gestylt, der von Deutschland selbst geforderte Stabilitätspakt zum Maastrichter Vertrag wird uminterpretiert, und Steuererhöhungen werden als "Steuervergünstigungsabbau" kaschiert. Je dümmer die Gesetze, desto schöner die Namen.

Schuld an der wirtschaftlichen Misere hat nicht nur die herrschende Regierung, auch ihre Vorgänger tragen Mitverantwortung. Die sozialliberale Koalition der siebziger Jahre hat den Sprung in den Schuldenstaat getan, die Regierung Kohl hat die wirtschaftliche Vereinigung des Landes mit absurden Versprechungen und irrealen Politikprogrammen vergeigt, und der Bundesregierung fehlt die Kraft für die notwendigen Reformen. Die Agenda 2010 zupft zaghaft am Steuerrad, ohne es wirklich herumzudrehen.

Jedes Land braucht eine Kulturrevolution, wenn der Filz über 50 Jahre akkumuliert wurde. Jetzt ist Deutschland so weit.

Wir müssen unsere Institutionen erneuern und unbequeme Fragen stellen: Können wir die Macht der Gewerkschaften weiter hinnehmen? Warum lassen wir unseren Sozialstaat so viel Geld für das Nichtstun ausgeben? Wie lange können wir das Siechtum der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ertragen, und wann geht uns das Geld aus, mit dem wir dort einen westlichen Lebensstandard finanzieren? Dürfen Staatsquote und Schuldenquote immer weiter wachsen?

Muss es sein, dass der Staat bereits dem wenig verdienenden Arbeiter zwei Drittel der Früchte seiner Anstrengung wegnimmt? Warum vergreist unser Land, und was können wir dagegen tun? Sollen auch Kinderlose die volle Rente bekommen? Sind Zuwanderer eine Hilfe oder ein Problem für die Deutschen? Sind wir auf den Wettbewerb mit den Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn vorbereitet, die jetzt in die EU kommen? Wohin treibt uns eigentlich das neue Europa, was führt die EU mit uns im Schilde? Diese Fragen brauchen mutige und ehrliche Antworten, und dann braucht Deutschland eine große Wirtschafts- und Sozialreform, die dem Land seine Zukunft zurückbringt.

Die notwendigen Reformen sind hart und unangenehm, und meistens wirken sie auch erst mit Verzögerung. Die Politik aber wagt sich bislang nicht an sie.

Die Partikularinteressen der Lobbys und Parteien verhindern gemeinsame Lösungen. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber streiten sich immer noch erbittert um die Zehntelprozentpunkte bei den Lohnabschlüssen. Die Parteien schieben einander die Schuld für die Wirtschaftsmisere in die Schuhe und sind nicht bereit, aufeinander zuzugehen. Jeder schaut ängstlich auf die Wählerstimmen, und keiner wagt es, bei den nötigen Reformen in Vorlage zu treten, weil er Angst hat, dass der politische Gegner sogleich Kapital daraus schlägt, indem er das Volksgewissen für sich reklamiert. Wenn die SPD einmal einen zaghaften Bremsversuch beim Sozialstaat startet, wird sie sogleich von der CDU/CSU links überholt.

Zorn erfüllt mich, wenn ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und wir nicht vorankommen, wie Deutschland weiter absackt und dem Zustand näher kommt, wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus der Geschichte verabschiedet.

Wir können die Kurve noch kriegen. Aber das verlangt unser aller Bereitschaft zu umfassenden Änderungen des Sozialstaates und der Wirtschaftsordnung.

Was derzeit politisch diskutiert wird, reicht noch lange nicht. Die Zahlen und Fakten liegen auf dem Tisch. Es muss jetzt gehandelt werden.

Professor Hans-Werner Sinn (56) ist Chef des renommierten ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Seine klugen Thesen sind in seinem jüngsten Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" (Econ, 499 S.; 25 Euro) nachzulesen

Cover: Ist Deutschland noch zu retten? von Hans-Werner Sinn; München, Econ-Verlag: 2003

CORINE Buchpreis 2004 - Foto der Statue

Wirtschaftsbuchpreis 2003 - Foto der Statue

CORINE Wirtschaftsbuchpreis 2004

Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?
München, ECON-Verlag, 8. Auflage Dez. 2004