Der kranke Mann Europas

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Schweizerzeit, 08.04.2004, S. 1-2

Einst war Deutschland die Nr. 1 in der EU

Das einstige Wirtschaftswunderland steckt in schwerster, viele meinen tödlicher Krise. Und in der Schweiz wird man gewahr, dass unser "Rückstand" auf Deutschland höchstens ein paar wenige Jahre beträgt. Schafft die Schweiz am 16. Mai 2004 mit einem Ja zum Steuerentlastungspaket nicht die Wende, versinkt auch sie im Morast des nur noch linken Funktionären zudienenden bürokratischen Wohlfahrtsstaats. Deshalb betrifft die Diagnose über den Zustand Deutschlands auch die Schweiz.

Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleite-Rekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt immer bedrohlichere Ausmasse an - und dennoch drängen die Armen der Welt in unser Land. Ein europäischer Nachbar nach dein anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim Wachstum, ausserstande, mit seinen Nachbarn mitzuhalten. War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder? Das muss lange her sein. Wunder gibt es heute anderswo.

Tanz auf dem Vulkan

Der Tanz auf dem Vulkan geht aber weiter. Beim Tourismus bleiben die Deutschen Weltmeister, und ihre Kreuzfahrtschiffe durchpflügen die Ozeane trotziger denn je. Das Rentensystem wird verteidigt, obwohl Kinder, die es finanzieren könnten, fehlen. Die jungen Leute haben den Kinderwagen gegen den Zweitwagen eingetauscht. Verliebt sein und vom Glück träumen will jeder, doch Kinder kommen in den Träumen immer weniger vor. Die Rente kommt vom Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose.

Die Regierung beginnt zaghaft mit ersten Reformen des Sozialsystems. aber sie wird aus den eigenen Reihen gebremst, weil die meisten Bürger die Notwendigkeit drastischer sozialer Reformen nicht sehen. Eine Regierung kann sich immer nur so weit vorwagen, wie die Wähler es verstehen. Sie kann nicht davon absehen, dass etwa vierzig Prozent der Wähler ihr hauptsächliches Einkommen als Sozialleistung der einen oder anderen Form vom Staat bekommen und dass die Steuerzahler in der Minderheit sind. Sie kann soziale Einschnitte nur wagen, wenn sie den Bürgern klarmachen kann, dass sonst das ganze Gemeinwesen absackt und dass selbst die scheinbar vom Sozialstaat begünstigten Personen zu den Verlierern gehören werden.

Arbeitslosigkeit

Das zentrale Problem der deutschen Volkswirtschaft ist die Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur einen Verlust an Sozialprodukt, sondern ist ein sozialer Sprengsatz, der, wenn er erst einmal gezündet wird, grössten Schaden anrichten kann.

Die heutige Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten dreissig Jahren allmählich aufgebaut. Sie zeugt von einem schleichenden Strukturproblem, nicht von einer plötzlichen Krise. Im Jahr 1970 hatte Deutschland nur 150 000 Arbeitslose. In diesem Jahr gibt es 4 400 000, und im nächsten Jahr werden es 4 500 000 sein. Das sind nur die offiziellen Zahlen. Rechnet man die Frührentner und die stille Reserve der Arbeitswilligen hinzu, die sich aus Frust schon gar nicht mehr arbeitslos melden, kommt man in erweiterter Definition auf gut und gerne 7,4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Viel Arbeitslosigkeit wurde in der Vergangenheit in Frühverrentungsmodellen, Arbeits-Förderungsmassnahmen und sonstwo versteckt, aber vorn Verstecken der Arbeitslosigkeit wird die Volkswirtschaft nicht gesunden.

Schlusslicht

Wer nicht arbeitet, erzeugt kein Sozialprodukt und verdient kein Geld. Die Volkswirtschaft wächst nicht mehr, und die Nachfrage nach den Produkten des Unternehmenssektors bleibt gering.

Die deutsche Volkswirtschaft ist in den acht Jahren seit 1995 real nur noch um zehn Prozent gewachsen. Das ist der niedrigste Wert unter allen europäischen Staaten. Im Durchschnitt wuchs die Wirtschaft der Europäischen Union in der gleichen Zeitspanne um 18 Prozent. Frankreich wuchs mit fast demselben Tempo, nämlich um 19 Prozent, und Grossbritannien wuchs gar um 22 Prozent. Deutschland ist das Schlusslicht unter allen europäischen Ländern.

Die britischen Erfolge sind die Spätfolgen der Reformen Margaret Thatchers in den achtziger Jahren. Margaret Thatcher hatte die britische Staatsindustrie privatisiert, die Macht der Gewerkschaften begrenzt und die sozialen Leistungen des Staates zusammengestrichen. Sie hat radikale Reformen durchgeführt, wie wir sie uns in Deutschland kaum vorstellen können. Ich weiss nicht, ob ich die Nachahmung ernpfehlen sollte. Aber es stellt fest, dass sie damit Erfolg gehabt hat. John Major und Tony Blair haben die Früchte ihrer Politik ernten können.

Franz Müntefering hat Deutschlands Schlusslichtposition mit der Bemerkung bestritten, dass die deutsche Wachstumsrate deshalb so niedrig sei, weil wir bereits da seien, wo die anderen erst noch hinwollen. Europa sei in einem Konvergenzprozess begriffen, bei dem die armen Länder schneller wüchsen als die reichen. Da wir reich sind, sei es verständlich, dass die anderen, noch im Aufholprozess befindlichen Länder schneller wachsen als wir.

Das ist eine schöne Theorie. Aber nicht alle schönen Theorien stimmen, Als Margaret Thatcher gewählt wurde - das war im Jahr 1979 - war Grossbritanniens Pro-Kopf-Einkommen nur halb so gross wie das deutsche. In den achtziger Jahren krempelte sie das Land um, und in den neunziger Jahren kam dann der Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, und das Wirtschaftswachstum beschleunigte sich so dramatisch, dass das Land im Jahr 2000 Deutschland überholte.

Besonders muss uns irritieren, dass die Österreicher nun an uns vorbeigezogen sind, denn lange hatten wird uns angewöhnt, auf die Nachbarn im Süden, die mit ihrem Austro-Sozialismus ganz offenkundig nicht zurechtkamen, herabzuschauen. Nun haben die Österreicher ihren ideologischen Ballast abgeschüttelt und schauen von ihren hohen Bergen mitleidsvoll auf uns herab.

Mehr Hiobsbotschaften

Das alles ist ziemlich blamabel und gesellt sich zu anderen Hiobsbotschaften hinzu.

Letztes Jahr haben wir mit 3,6 Prozent Neuverschuldung die Maastricht-Leine gerissen und uns zum Gespött der Länder Europas gemacht. Dieses Jahr und nächstes Jahr geht das so weiter. Die finanziellen Zugeständnisse im EU-Haushalt, die wir den stabileren Ländern Europas werden anbieten müssen, um die vorgesehene Vertragsstrafe von etwa 15 Milliarden Euro zu vermeiden, werden nicht kleiner sein als die Strafe selbst. Die lange erstrebte Reduktion der deutschen Nettozahlungen können wir in den Wind schreiben.

Die Zahl der Wirtschaftspleiten hat in den letzten Jahren mit beängstigender Geschwindigkeit zugenommen. Wir haben heute allein schon in Westdeutschland dreimal so viele Konkurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor 25 Jahren. Die Zahl der Konkurse im Mittelstand wächst derzeit trotz der besser werdenden Konjunkturdaten noch exponentiell an. Die grossen deutschen Banken wurden davon empfindlich getroffen, weil sie erhebliche Teile ihrer Kredite abschreiben mussten. Eine drastische Herabstufung durch die internationalen Rating-Agenturen war die bittere Folge. Die besten Adressen befinden sich heute nicht mehr in Deutschland.

Die neuen Bundesländer machen auch keine Freude. Seit 1997 wachsen sie langsamer als die alten. Die Lücke zwischen Ost und West wird prozentual grösser statt kleiner. Es kann keine Rede davon sein, dass zusammenwächst, was da zusammenwachsen soll. Von einem sich selbst tragenden Aufschwung keine Spur.

Die neuen Bundesländer sind in Wahrheit eine de-industrialisierte Zone, die am Tropf des Westens hängt. Pro Jahr fliessen schätzungsweise immer noch 85 Mrd. Euro über die öffentlichen Kassen in die neuen Bundesländer, sei es in Form von Arbeitslosengeldern und Renten, sei es über den Länderfinanzausgleich oder durch Ausgaben des Bundes, die den neuen Ländern zugute kommen. Der Verbrauch in Gütern und Leistungen durch den Staat, die Investoren und die privaten Haushalte übersteigt die eigene Erzeugung um etwa 45 Prozent.

Das hat es in ähnlicher Grössenordnung noch nie irgendwo in der Geschichte der Menschhheit gegeben. Jeder dritte Euro, der in den neuen Ländern ausgegeben wird, kommt aus dem Westen. Von ihm sind 75 Cent geschenkt und 25 Cent geliehen. Das ist eine Entwicklung, die nicht mehr als nachhaltig bezeichnet werden kann, um ein neudeutsches Wort zu verwenden.

Bislang haben wir die Kosten der neuen Länder fast vollständig durch eine Zunahme der Staatsverschuldung gedeckt. So betrugen die Kosten der Transfers in die neuen Länder von der Wiedervereinigung bis zum Ende des letzten Jahres circa 850 Milliarden Euro (rund 1300 Milliarden Fr.), und die Staatsschuld wuchs in der gleichen Zeit um etwa 770 Milliarden Euro (rund 1170 Milliarden Fr.). Der Fortsetzung dieser Politik ist aber wegen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein Riegel vorgeschoben.

Seit dem Jahr 2002 liegt die erlaubte Nettoneuverschuldung unter den laufenden Zinsen für die aufgeblähte Staatsschuld. Die Zinslasten betrugen in diesem Jahr 68 Milliarden Euro, die tatsächliche Neuverschuldung lag bei 76 Milliarden Euro, doch erlaubt war nur eine Nettoverschuldung in Höhe von 63 Milliarden Euro.

Wir sind heute schon die zukünftigen Generationen, die beim Schuldenthema immer beschworen werden. Wir müssen die kreditfinanzierten Sozialleistungen bezahlen, die die sozialliberale Koalition in den siebziger Jahren unter das Volk gebracht hat. Und zusätzlich müssen wir für die kreditfinanzierten Sozialtransfers im Zuge der deutschen Vereinigung aufkommen. Eine weitere Lastenverschiebung in die Zukunft ist nicht mehr möglich. Die Zeche muss von nun an immer gleich beim Verzehr bezahlt werden.

Basar-Ökonomie

Die akute Gefährdung der Volkswirtschaft unseres Landes wird manchmal mit dem Hinweis auf die in diesem Jahr recht hohen deutschen Exportwerte in der internationalen Zahlungsbilanz-Statistik heruntergespielt. Aber die Statistiken täuschen, denn sie nehmen keine Rücksicht darauf, welcher Anteil der Exporterlöse auf eine Wertschöpfung in Deutschland zurückzuführen ist. Der von Deutschland exportierte Audi, dessen Motor aus Ungarn kommt, wird zu 100 Prozent dem deutschen Export zugerechnet.

Dies führt mich zu einem wichtigen Thema, dem sogenannten Outsourcing der Produktion nach Osteuropa, also der Verlagerung arbeitsintensiver Teile der Vorprodukt-Kette. Diese Verlagerung wird durch die extrem niedrigen Löhne in diesen Ländern induziert, die in den neuen EU Ländern Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn in der Grössenordnung von einem Sechstel der unsrigen liegen und in Rumänien und Bulgarien gar nur ein Siebzehntel ausmachen.

Was Asien für die deutsche Grossindustrie war, als sie den deutschen Lohnkosten auswich, ist Osteuropa für den Mittelstand. Die geographischen und kulturellen Abstände zu uns sind klein genug, um das Engagement im Osten zu überschaubaren Rüstkosten wagen zu können. Wer in dem immer schärfer werdenden Wettbewerb auf den Weltmärkten überleben will, muss heute die arbeitsintensiven Teile der Vorprodukt-Kette in Niedriglohnländer verlagern, und das tun die deutschen Firmen in zunehmendem Masse.

In Deutschland wird noch die Endmontage der Industrieprodukte durchgeführt, aber der Anteil der Wertschöpfung, der in unserem Lande anfällt, also der Anteil der Löhne und Kapitaleinkommen am Wert der Fertigwaren, der auf Deutschland entfällt, wird immer kleiner. Deutschland entwickelt sich allmählich in die Richtung einer Basar-Ökonomie, die die Weltmärkte mit den Waren bedient, die wir in unserem osteuropäischen Hinterland produzieren lassen.

Ich gebe zu, dass der Begriff der Basar-Ökonomie eine Karikatur ist, aber er ist eine Karikatur, der die Wirklichkeit schneller näher kommt, als viele es glauben wollen. Ein Blick auf die Statistik ist hier nützlich. Sie zeigt, dass etwa ab 1995 eine starke Entkoppelung von Industrieproduktion und realer Wertschöpfung stattgefunden hat, während sich beide Werte vorher ziemlich parallel entwickelten. So stieg die reale Industrieproduktion seit dem ersten Quartal 1995 bis zum ersten Quartal dieses Jahres um fünfzehn Prozent, doch die reale Wertschöpfung in der deutschen Industrie nahm nur um fünf Prozent zu. Offenbar entfiel der Löwenanteil des industriellen Produktionswachstums, das unsere Statistiken verzeichnen, auf die Zunahme der ausländischen Vorleistungen, die von der Industrie eingekauft wurden. Es passt in dieses Bild, dass die Industriebeschäftigung im gleichen Zeitraum um zehn Prozent fiel.

Durch das Outsourcing bleiben die deutschen Firmen wettbewerbsfähig. Sie können ihre Weltmarktposition einigermassen verteidigen. was dabei jedoch nicht wettbewerbsfähig bleibt, sind die deutschen Arbeitsplätze. Sie werden mit hohem Tempo abgebaut, Die deutschen Firmen bleiben wettbewerbsfähig, und der deutsche Export bleibt stark, doch die deutschen Arbeitnehmer haben ihre Wettbewerbsfähigkeit bereits verloren. Viereinhalb Millionen Deutsche sind arbeitslos. 4,5 Millionen Deutsche sind nicht mehr wettbewerbsfähig.

Prof. Hans-Werner Sinn