Teurer Sozialmagnet

Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, über die neue EU-Verfassung und die dramatischen finanziellen Folgen der Zuwanderung für Deutschland.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Capital, 15/2004, 08.07.2004, S. 32

Deutschland ist ein Wohlfahrtsmagnet für die Armen dieser Welt. Der Sozialstaat ist mit dafür verantwortlich, dass per Saldo zwischen 1970 und 2002 etwa siebeneinhalb Millionen Menschen nach Deutschland eingewandert sind. Natürlich hat die Zuwanderung viele Gründe, auch nichtökonomische. Und ohne Zweifel kann Zuwanderung für alle Beteiligten nützlich sein, wenn dadurch Arbeitskräfte produktiver eingesetzt werden als in ihrem Heimatland - und sie im Gegenzug höhere Löhne erhalten. Doch in der Praxis kommen neben den besseren Verdienstmöglichkeiten die Geschenke des Sozialstaats als Anreiz zur Migration hinzu. Und zwar gleich dreifach.

Erster Anreiz: die direkte Umverteilung. Da ausländische Arbeitnehmer schon wegen ihrer Sprachdefizite nur ein unterdurchschnittliches Einkommen erwirtschaften, partizipieren sie an der Umverteilung von Reich zu Arm, wie sie nun mal das Wesen des Sozialstaates ist. Sie erhalten Rentenansprüche und Krankenschutz, sie partizipieren an Sozialhilfe und Schulausbildung, und sie können die staatliche Infrastruktur von der Straße bis zum Rechtssystem in Anspruch nehmen. Dafür zahlen sie nur sehr wenig. Im Jahr 1997 lag das Nettogeschenk während der ersten zehn Jahre des Aufenthalts im Schnitt bei 2400 Euro pro Jahr und Zuwanderer.

Konkurrenz. Zweiter Anreiz: die indirekte Zuwanderung. Das Entgelt für einfache Arbeit ist hoch, weil der Staat durch das Sozialhilfeniveau einen Mindestlohn im Tarifgefüge festlegt. Das verursacht ein Übermaß an Migration und schafft ein Überangebot an Arbeitskräften. Da die Unternehmer darauf nicht mit Lohnsenkungen reagieren können, entstehen keine neuen Stellen. Es findet eine Immigration in die Arbeitslosigkeit statt. Dabei werden allerdings nicht die Zuwanderer arbeitslos, sondern die Einheimischen. Von den Migranten, die zwischen 1970 und 2002 in die Bundesrepublik kamen, fanden 3,1 Millionen Arbeit. Zugleich verloren 3,2 Millionen Deutsche ihren Job. Die Zahlen sind zwar noch kein Beweis für die Verdrängungsthese, aber sie sind erhellend. Der Beweis liegt in der volkswirtschaftlichen Theorie, die kaum einen anderen Schluss zulässt. Die indirekte Zuwanderung in den Sozialstaat treibt dessen Kosten in die Höhe. Sie ist eine der Ursachen der öffentlichen Finanznot.

Dritter Anreiz: Sozialleistungen für Nichterwerbstätige. Dieser Typ ist bislang der unwichtigste, weil die Freizügigkeitsrechte in Europa auf Arbeitnehmer konzentriert waren. Aber mit dem Sozialkapitel der neuen EU Verfassung und der Freizügigkeitsrichtlinie, die binnen zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden muss, wird die Tür des Sozialstaates nun auch für Nichterwerbstätige etwas weiter aufgestoßen - während die EU-Osterweiterung zugleich den Wanderungsdruck erhöht. Nichterwerbstätige müssen zwar nach wie vor für einen Aufenthalt von bis zu fünf Jahren Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz nachweisen. Danach erhalten sie aber automatisch das Daueraufenthaltsrecht und haben dann den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen wie mittellose Deutsche. Zudem können sie, anders als bisher, vor Ablauf der fünf Jahre nicht schon deshalb ausgewiesen werden, weil ihre Existenzmittel vorzeitig zur Neige gegangen sind. Wer in angemessenem Umfang Sozialhilfe beansprucht, soll nicht ausgewiesen werden, besagt die Richtlinie.

Reformdruck. Deutschland ist an einem Punkt angekommen, an dem es sich die Magnetwirkungen seines Sozialstaates nicht mehr länger leisten kann. Gleichzeitig verstärkt aber der wachsende Liberalisierungsdruck durch die EU genau diese Wirkungen. In diesem Konflikt muss die Politik den Mut zu grundsätzlichen Reformen aufbringen. So hilft zum Beispiel die verzögerte Integration von Zuwanderern, wie sie Großbritannien durchgesetzt hat. Auf nationaler Ebene brauchen wir einen Wechsel von einer Lohnersatz- zu einer Lohnzuschusspolitik, die die Löhne nach unten flexibel macht und die Immigration in die Arbeitslosigkeit verhindert.