Das Exporträtsel

Warum Arbeitsplätze auch bei hohen Ausfuhren verschwinden
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2004, S. 24

Die Weltwirtschaft wächst im laufenden Jahr um fünf Prozent. Sie boomt wie seit 28 Jahren nicht mehr. Dennoch lahmt das Wirtschaftswachstum in Deutschland, der Arbeitsmarkt steckt in der Krise. Der Konsum und insbesondere die Investitionen bleiben schwach. Der deutschen Konjunktur fehlt die Dynamik früherer Aufschwünge. Der deutsche Export wird zwar von den rasant wachsenden Investitionen der Weltwirtschaft mitgezogen. Er steigt 2004 um etwa zehn Prozent. Deutschland wird deshalb den Titel des Vizeweltmeisters beim Export verteidigen können. Doch die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für 2004 nur 1,8% und für 2005 nur 1,5% Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt. Deutschland gehört weiterhin zu den Schlusslichtern in Europa.

Die deutsche Wirtschaft wirft ein Rätsel auf. Warum führt der gewaltige Nachfrageschub, der 2004 von außen auf die deutsche Wirtschaft zukam und der alles übertraf, was Hans Eichel selbst mit der verwegensten Verschuldungspolitik hätte erreichen können, nicht zu mehr Wachstum? Warum lahmen Arbeitsmarkt und Binnennachfrage, obwohl der Export boomt?

Basar-Ökonomie

Die Antwort lautet: Die deutschen Exportfirmen sind wettbewerbsfähig sind, die deutschen Arbeitnehmer jedoch nicht. Während die Firmen als Rechtspersönlichkeiten und Träger der Marken ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern, indem sie immer größere Anteile ihrer Vorproduktketten in Niedriglohnländern fertigen lassen, haben viele deutsche Arbeitnehmer ihre Wettbewerbsfähigkeit bereits verloren. Das ist die These von der Basar-Ökonomie: Industrielle Wertschöpfung, Beschäftigung, Lohneinkommen und damit auch privater Konsum werden zunehmend von der Produktion abgekoppelt. Die um ihre Arbeitsplätze bangenden Arbeitnehmer wagen es nicht, mehr auszugeben, die Unternehmer trauen sich angesichts der immer schärferen Niedriglohnkonkurrenz aus dem Ausland nicht, in deutsche Arbeitsplätze zu investieren. Wenn investiert wird, dann in einem der östlichen Niedriglohnländer, die vor der deutschen Haustür liegen.

Zwar nimmt die industrielle Wertschöpfung mit den Exporten zu und liefert positive Konjunkturimpulse für die deutsche Wirtschaft, doch verlieren diese wegen der zunehmenden Entkoppelung von Wertschöpfung und Industrieproduktion an Kraft. Die Entkoppelung verläuft in Deutschland deutlich schneller als in den anderen europäischen Ländern, ja sie verläuft aus volkswirtschaftlicher Sicht sogar zu schnell. Die Industriebeschäftigung geht zurück, ohne dass im Dienstleistungsgewerbe genügend Arbeitsplätze zur Aufnahme der freigesetzten Menschen entstehen. Ein Prozess, der im Prinzip als Kennzeichen einer verbesserten internationalen Arbeitsteilung begrüßt werden kann, ist in Deutschland überzogen. So gingen zwischen 1995 und 2003 nicht weniger als 1,9 Milliarden Arbeitsstunden im Produzierenden Gewerbe* (ohne Bau) verloren, doch lediglich 290 Millionen Stunden entstanden in diesem Zeitraum im Rest der Wirtschaft. Netto lag der Verlust also bei 1,61 Milliarden Stunden. Arbeitnehmer wanderten nicht von der Industrie zum Dienstleistungssektor, sondern zum Sozialstaat.

Verantwortlich hierfür war im Wesentlichen die Starrheit der Löhne für einfache Arbeit, die selbst auf das Tarifrecht und die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates zurückzuführen ist. Einfache Industriearbeit in Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig, weil sie zu teuer ist. Die deutschen Arbeitskosten pro Stunde sind höher als bei praktisch allen Wettbewerbern. Sie übersteigen selbst die schwedischen Kosten um ein Drittel. Solange dieses Problem nicht gelöst wird, wird der Export die Binnenkonjunktur nicht antreiben können.

Prof. Dr. Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts München.

* Im Artikel irrtümlich "verarbeitendes Gewerbe" .