Basarökonomie Deutschland

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Financial Times Deutschland, 17.09.2004, S. 38

Warum das Outsourcing zu schnell geht - Eine Erwiderung an meine Kritiker

VON HANS-WERNER SINN

In meinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" habe ich die These entwickelt, dass sich Deutschland schleichend zu einer Basarökonomie entwickelt und dass dieser Prozess wegen der Rigiditäten des Arbeitsmarktes derzeit übermäßig schnell abläuft. Als Basarökonomie bezeichne ich eine Volks wirtschaft, deren Exportindustrie erfolgreich ist, weil sie einen wachsenden Teil ihrer Wertschöpfung ins kostengünstigere Ausland verlagert. Die FTD - Journalisten Mark Schieritz, Sebastian Dullien und Christiane Karweil haben diese These in mehreren Artikeln aufs Korn genommen und so eine interessante Debatte entfacht. Hier sind einige Antworten.

Mark Schieritz schreibt, die Investment Bank Morgan Stanley habe die ifo-Zahlen nachgerechnet und Zweifel an der Basar-These bekundet, da die Produktion der Industrie zuletzt nicht mehr schneller als ihre Wertschöpfung gewachsen sei. Diese Aussage ist insofern verwunderlich, als auch das von mir in der FTD veröffentlichte Diagramm zeigt, dass die Industrieproduktion von 2001 bis 2003 nicht mehr schneller als die Wertschöpfung stieg und der Anteil der importierten Vorleistungen in dieser Zeit wieder abnahm.

Dennoch bleibt wahr, dass die reale Industrieproduktion von 1995 bis 2003 um 18 Prozent stieg, während die reale Wertschöpfung der Industrie insgesamt nur um vier Prozent zulegte: Die Fertigungstiefe der Industrie hat seit 1995 sehr stark abgenommen, selbst wenn man die Gegenbewegung der letzten zwei Jahre mit einbezieht. Hier handelt es sich vermutlich um einen konjunkturellen Effekt und nicht um ein Trendphänomen. In der Flaute wird zunächst bei den ausländischen Zulieferern gekürzt. Der Widerspruch zu Morgan Stanley ist jedenfalls nicht vorhanden.

Die Verringerung der Fertigungstiefe ist nach ifo-Berechnungen auf Basis der lnput-Output-Statistik des Statistischen Bundesamtes zu vier Fünfteln auf Produktionsverlagerung ins Ausland, und nur zu einem Fünftel auf eine Verlagerung in andere inländische Sektoren zurückzuführen. Sebastian Dullien greift diese in der 6. Auflage meines Buches zitierte Aussage auf und unterstellt mir, ich hielte sie für den "ultimativen Beweis, dass Arbeitsplätze in Deutschlands Verarbeitendem Gewerbe nicht mehr wettbewerbsfähig seien." In Wahrheit sei die Verringerung der nationalen Fertigungstiefe eine natürliche Implikation der verbesserten internationalen Arbeitsteilung, die weltweit zu beobachten ist.

Vorteile durch Handel

Wie kann man mein Buch so missverstehen? Seitenweise preise ich die grundsätzlichen Vorteile der Globalisierung, erkläre die Handelsgewinne, die durch offene Grenzen zu erwarten sind, und erläutere, warum auch die Entwicklung zu einer Basarökonomie zum Vorteil gereichen kann. Die Dienstleistungen der Handelsdrehscheibe Deutschland sind potenziell eine neue Quelle der Wohlstandsmehrung der Deutschen. Wenn ich die konkrete Entwicklung kritisiere, so nicht, weil sich die industrielle Fertigungstiefe verringert, sondern weil sie sich wegen künstlich hoch getriebener Industriearbeiterlöhne zu schnell verringert. Welchen Holzhammer muss ich gebrauchen, damit dies klar wird und mein Buch nicht immer wieder verzerrt wird?

Die Entwicklung wird übertrieben, weil die Beschäftigung, die in der Industrie wegbricht, weder bei Dienstleistern noch sonst wo neu entsteht. Der längerfristige Trend zu immer mehr Arbeitslosigkeit, der seit 1970 anhält, ist verheerend. Auch die letzten acht Jahre waren keinesfalls zufrieden stellend. Zwar wuchs die Zahl der Stellen in der Gesamtwirtschaft trotz eines achtprozentigen Rückgangs in der Industrie - aber nur, weil eine Vielzahl von Minijobs und Teilzeitbeschäftigungen entstanden. Das geleistete Arbeitsvolumen im Produzierenden Gewerbe (ohne Bau) sank von 1995 bis 2003 um 1,9 Mrd. Stunden oder 14 Prozent. Von diesem Verlust hat der Rest der Wirtschaft nur ein Siebtel wettgemacht. Dort stieg das Arbeitsvolumen gerade einmal um 290 Mio. Stunden oder 0,7 Prozent, Der Nettoverlust beim Arbeitsvolumen betrug sechs Siebtel des Beschäftigungsabbaus in der Industrie oder 1,6 Mio. Stunden. Das Tempo, mit dem sich die Fertigungstiefe der Industrie verringerte, ist auch nicht schon deshalb als gesund zu bezeichnen, weil - wie Christiane Karweil unter Bezug auf das Statistische Bundesamt ausführt - ‚ die Wertschöpfung der Exportwirtschaft schneller als das Sozialprodukt wuchs. Das ist wegen der wachsenden internationalen Verflechtung in vielen Ländern so und steht der Basar-These nicht entgegen.

Zum einen bezieht sich diese Aussage ja nicht nur auf die Industrie, sondern zu 45 Prozent auch auf die exportierten Dienstleistungen, zu denen gerade auch solche der Basarökonomie zählen. Zum anderen sagt sie überhaupt nichts darüber aus, ob die Verringerung der Fertigungstiefe, deren Dramatik das Statistische Bundesamt übrigens auch für die gesamte Exportwirtschaft nachweist, im richtigen Tempo stattfindet.

Lohntreiber Sozialstaat

Von einer gesunden Entwicklung könnte man reden, wenn die Dienstleister händeringend Leute suchten, deshalb die Löhne hochtrieben und die Industrie so zwängen, Arbeitskräfte freizugeben. Davon sind wir meilenweit entfernt. Per saldo sinkt das Beschäftigungsvolumen trotz der relativen Zunahme des Dienstleistungssektors weiter. Zuletzt hat sogar das Dienstleistungsgewerbe Jobs abgebaut. Es kann nicht die Rede davon sein, dass die Industrie ins Ausland ausweicht, weil die Dienstleister hier die Löhne hochtreiben.

Verantwortlich hierfür sind vielmehr die Gewerkschaften und der Sozialstaat. Der Sozialstaat betreibt mit seinen Lohnersatzeinkommen gerade bei einfacher Industriearbeit massive Lohnkonkurrenz - und verhindert, dass sich unser Land der internationalen Niedriglohnkonkurrenz stellt. Nicht der Dienstleistungssektor, sondern der Sozialstaat entzieht der Industrie die Beschäftigten.

Die hohen und starren Lohnkosten für Industriearbeiter vertreiben immer mehr Arbeitsplätze ins Ausland. 60 Prozent der mittelständischen Unternehmen mit unter 5000 Beschäftigten haben Niederlassungen außerhalb der alten EU errichtet. Insgesamt hat die deutsche Wirtschaft laut Bundesbank mehr als vier Millionen Arbeitsplätze im Ausland geschaffen. Selbst die stillen Stars des Mittelstands suchen das Weite. Der Prozess führt mit großer Macht zur Deindustrialisierung ganzer Landstriche und ist von einer großen Zahl Aufsehen erregender Betriebsschließungen begleitet. Man kann sich nur wundern, dass die keynesianisch orientierten Ökonomen der FTD das alles nicht sehen wollen und statt dessen - wenn auch mit reichlich falschen Untertönen - das hohe Lied der Markt wirtschaft anstimmen.