Pro und Contra

Ungleichheit wird zementiert
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Südwest Presse, 06.04.2006, S. 3

Hauptschule hat Zukunft

Das dreigliedrige Schulsystem hat sich bewährt, sagt Baden-Württembergs Kulturminister Helmut Rau (CDU). Er setzt auf Frühförderung statt auf die Einheitsschule.

"Der spektakuläre Hilferuf des Lehrerkollegiums der Rütli-Hauptschule wirft viele Fragen auf. Für mich zählt die Frage nach der Zukunft des dreigliedrigen Schulwesens nicht dazu. Wer glaubt, Integrationsprobleme durch die Abschaffung der Hauptschule lösen zu können, der irrt. Auch bei der immer wieder geforderten Zusammenlegung von Schularten bleiben die Schüler dieselben - und die Probleme auch. Strukturdebatten führen am Ziel vorbei.

Wer es ernst meint mit der Integration junger Migrantinnen und Migranten, diskutiert nicht über die Einheitsschule oder redet die Hauptschule schlecht, sondern investiert in frühkindliche Bildung und fördert das Erlernen der deutschen Sprache. Die Weichen für eine erfolgreiche Bildung werden in den frühen Jahren gestellt. Daher legen wir einen Schwerpunkt auf die Frühförderung. Wir wollen, dass die Herkunft junger Menschen nicht über ihre Zukunft entscheidet.

Hinter jeder Schulart steht ein bestimmtes Bildungskonzept, das an den unterschiedlichen Stärken der jungen Menschen ansetzt. Baden-Württemberg hat bei der Pisa-Studie erfolgreicher abgeschnitten als Bundesländer, die auf die Gesamtschule gesetzt haben. Wir haben die bundesweit niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Dies liegt an unserem dualen System der beruflichen Ausbildung, aber auch an der Hauptschule. In den vergangenen Jahren haben wir an dieser Schulart ein Bündel pädagogischer Innovationen umgesetzt: Sprach- und Leseförderung, die Stärkung sozialer Kompetenzen und Kooperationen mit dem Berufsvorbereitungsjahr. Der Ausbau von Förderangeboten, eine engere Verzahnung mit der beruflichen Praxis und ganztägige Betreuungsangebote stehen auf der Tagesordnung. Hauptschüler haben in Baden-Württemberg eine Perspektive, weil wir der Hauptschule eine Zukunft geben."

Ungleichheit wird zementiert

Vor allem Migrantenkinder bringt das dreigliedrige Schulsystem um ihre Chancen, sagt Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung.

"Die Vorfälle an der Berliner Rütli-Schule haben erneut die Diskussion um das dreigliedrige Schulsystem entfacht. Zu Recht. Es passt nicht mehr in unsere Zeit, reflektiert nur noch die Drei-Klassen-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Früher sprach man von der Volks-, der Mittel- und der Oberschule. Damit gab man zu, dass man für das Volk, die Mittel- und die Oberschicht drei verschiedene Schulen vorgesehen hatte.

Die Verwendung anderer Namen heute ändert aber kaum etwas daran, dass mit unserem Schulsystem die Ungleichheit der Gesellschaft zementiert wird. Deutschland selektiert seine Schüler bereits im Alter von zehn Jahren, während fast alle anderen Länder sie erst nach der Pubertät aufteilen. Die frühe Selektion maximiert den Einfluss der Eltern und minimiert die Bedeutung der tatsächlichen Begabung der Kinder. Noch immer hat ein Akademikerkind eine siebenmal so große Chance, auf eine höhere Schule zu kommen, wie ein Facharbeiterkind.

Besonders benachteiligt sind die Kinder der Ausländer. Während 40 Prozent der deutschen Schüler auf ein Gymnasium gehen, zählt man dort nur 18 Prozent der ausländischen Schüler. Jeder zweite ausländische Schüler besucht eine Haupt- oder Sonderschule, aber nur jeder fünfte deutsche tut das. Unter den Arbeiter- und Migrantenkindern gibt es viele, die das Zeug zum Akademiker hätten, würde man sie nur fördern, statt sie viel zu früh um Chancen und Perspektiven zu bringen. Das schafft Frustration, im schlimmsten Fall auch Aggression.

Das dreigliedrige System gehört in den Abfalleimer der Geschichte. Deutschland muss die Diskussion um die Gesamtschule neu führen, die nur deshalb nie erfolgreich werden konnte, weil sie mit dem Ballast der antiautoritären Erziehung befrachtet war. Es ist an der Zeit, links und rechts alte Ideologien zu vergessen und unser Schulsystem internationalen Standards anzupassen."