Immigration in den Wohlfahrtsstaat

Die Presse (ref. Project Syndicate), 29.04.2006

GASTKOMMENTAR VON HANS-WERNER SINN

Da kein Staat zum Ziel von Wohlfahrtswanderungen werden möchte, werden die Staaten Westeuropas reihum ihre Sozialleistungen kürzen.

Der 1. Mai 2006 ist ein wichtiges Datum für Europa, spätestens dann muss die EU-Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt sein. Die meisten EU-Staaten haben ihre Einwanderungsgesetze bereits angepasst oder zugesagt, dies vor Ablauf der Frist noch zu tun. Nur Belgien, Italien, Finnland und Luxemburg sind im Verzug.

Während die Vorschriften der Richtlinie für die Zuwanderung von abhängig Beschäftigten und Selbstständigen kaum vom früheren Rechtsstand abweichen, wurden die Rechte auf Zuwanderung und auf Zugang zu den Sozialleistungen für nicht-erwerbstätige EU-Bürger deutlich ausgeweitet. Nach einer fünfjährigen Wartefrist, während derer man sich selbst versorgen muss, ist die Immigration in den Wohlfahrtsstaat nun erlaubt.

Zwar haben sich einige der alten EU-Mitgliedstaaten für ein Verbot der Zuwanderung von Erwerbstätigen aus Osteuropa während einer Übergangsphase entschieden, die maximal bis zum April 2011 reicht. Dieses Verbot betrifft jedoch weder die Selbstständigen noch die nicht-erwerbstätigen Personen. Dieser Personenkreis genießt schon heute die volle Freizügigkeit.

Gemäß der Freizügigkeitsrichtlinie kann jeder EU-Bürger für eine Dauer von bis zu fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis in jedem EU-Staat beantragen, danach erhält er ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Grundsätzlich hat er nach einer Frist von drei Monaten den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen wie die Einheimischen. Allerdings hat man bei Nicht-Erwerbstätigen Vorkehrungen getroffen, die den Missbrauch des Systems während der ersten fünf Jahre einschränken sollen. Diese Vorkehrungen bestehen v. a. in einem Nachweis einer Krankenversicherung und ausreichender "Existenzmittel".

Es ist nicht ganz klar, was mit den "Existenzmitteln" gemeint ist. Folgt man der Präambel der Direktive, so darf der Staat die Aufenthaltserlaubnis nicht wegen unzureichenden Vermögens verweigern. Das wäre eine unzulässige Diskriminierung. Theoretisch müssten die notwendigen Existenzmittel auf die persönlichen Verhältnisse des Zuwanderers abgestimmt sein. In der Praxis wird jedoch von jedem Zuwanderer ungeachtet seiner persönlichen Verhältnisse ein Nachweis in Form von Vermögenswerten oder regelmäßigem Einkommen verlangt.

Schon während der Fünfjahresfrist erhält der Zuwanderer im Vergleich zum alten EU-Recht zusätzliche Rechte. Wenn ihm seine Vermögenswerte abhanden kommen, kann er nicht mehr ohne weiteres in seine Heimat zurückgeschickt werden. Vielmehr stehen ihm jetzt die sozialen Leistungen des Gastlandes zu. Die Dauer der Aufenthaltserlaubnis kann nicht schon deswegen gekürzt werden, weil der Zuwanderer hilfsbedürftig geworden ist und Sozialhilfe beantragt.

Wenn die Frist abgelaufen ist, hat der Zuwanderer unbeschränktes Aufenthaltsrecht mit vollem Zugang zum nationalen Sozialsystem. Dieser Anspruch kann auch nicht verweigert werden, wenn der Zuwanderer keine Krankenversicherung und ausreichenden Mittel zum Lebensunterhalt mehr hat.

Der Anreiz, die neuen Rechte durch Migration zu nutzen, wird vor allem für die Osteuropäer stark sein. Heute liegt der Durchschnittslohn der zehn neuen EU-Länder bei etwa einem Fünftel des Lohnes und oft nur bei einem Viertel bis der Hälfte der Sozialhilfe. Die realen Unterschiede im Lebensstandard sind zwar nicht so groß, stellen aber eine Versuchung dar. Dies gilt auch für Bulgaren und Rumänen, die 2008 der EU beitreten sollen. Derzeit erreichen ihre Löhne etwa sieben Prozent des Westniveaus.

Westeuropa hat 30 Jahre einer indirekten Zuwanderung in den Sozialstaat hinter sich. Da die Lohnersatzleistungen des Sozialstaates die Löhne der gering Qualifizierten künstlich erhöht haben, war ein Übermaß an Zuwanderung und Arbeitslosigkeit die Folge: Statt sich mit den Zuwanderern auf eine Niedriglohnkonkurrenz einzulassen, haben sich die Einheimischen in den Sessel drängen lassen, den der Sozialstaat für sie bereit hielt. Wegen der Freizügigkeitsrichtlinie könnte Westeuropa 30 Jahre der direkten Migration in den Sozialstaat vor sich haben.

Eine schleichende Migration in die Sozialstaaten wird folgen. Da kein Staat zum Ziel von Wohlfahrtswanderungen werden möchte und die Diskriminierung zwischen Ein- und Zuwanderern verboten ist, werden die Staaten Westeuropas reihum ihre Sozialleistungen kürzen. Europa wird eine lange Periode eines Abschreckungswettbewerbs gegenüber der Armutsmigration erleben, während derer sich der Kontinent allmählich von einem Teil seiner traditionellen sozialen Errungenschaften verabschieden wird.

Die EU wird versuchen, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, indem sie die Leistungen der Sozialstaaten harmonisiert. Der Entwurf der neuen EU-Verfassung, der in Frankreich und Holland scheiterte, ist von dieser Absicht beseelt. Da die Harmonisierung vermutlich Lohnersatzleistungen wie Sozialhilfe und Arbeitslosengeld betreffen wird, wird sie Europa freilich noch mehr schaden. Harmonisierte Lohnersatzleistungen bedeuten einheitliche Mindestlöhne für die EU-Länder. Angesichts der großen realen Unterschiede zwischen diesen Ländern wird es sich dann nicht vermeiden lassen, dass große Teile des Kontinents in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden.

Noch ist Zeit, das Unheil abzuwenden. Aber dazu müsste die Freizügigkeitsrichtlinie so geändert werden, dass das Migrationsrecht nicht einen Anspruch auf alle Sozialleistungen des Gastlandes impliziert. Wenn das Heimatland weiterhin für die Sozialleistungen an die nicht-erwerbstätigen Zuwanderer verantwortlich bliebe, könnte die Erosion der EU-Sozialstaaten vermieden werden.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München.

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