Viele Tore

Hans-Werner Sinn über Masseneinwanderung und Sozialstaat
Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, 03.07.2006, Ausblick

Wie viele Immigranten leben eigentlich in Deutschland? Keiner konnte diese Frage bislang beantworten. Bekannt war nur der Ausländeranteil von 8,9 Prozent, und der hielt sich im europäischen Rahmen. Man wunderte sich allerdings über diese geringe Zahl, denn sie entspricht nicht dem Bild auf den Straßen unseres Landes.

Seit das Statistische Bundesamt nun die Ergebnisse seines neuen Mikrozensus veröffentlicht hat, wissen wir mehr. Nun ist plötzlich von 18,5 Prozent Immigranten die Rede. Die Überraschung hätte größer kaum sein können. Fast jeder fünfte Bewohner Deutschlands ist demnach ein Immigrant.

Zwischen den beiden Zahlen besteht aber nur ein scheinbarer Widerspruch, denn Ausländer und Immigranten sind nicht dasselbe. Immigranten können eingebürgert werden - dann sind sie keine Ausländer mehr; und es kann sich um Russland- und Rumäniendeutsche handeln, die ohnehin als Deutsche zählen. Die 8,9 Prozent bezieht sich somit nur auf jene Immigranten, die nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Demgegenüber umfassen die 18,5 Prozent alle Zuwanderer, auch die Russland- und Rumäniendeutschen, und die Kinder dieser Zuwanderer einschließlich der in Deutschland geborenen. Das Statistische Bundesamt spricht deshalb auch von der "Bevölkerung mit Migrationshintergrund". Ausländer, die als Touristen hier leben und nicht gemeldet sind, sind jedoch auch in dieser Zahl noch nicht erfasst.

Eine etwas andere Definition der Immigranten bezieht sich auf den Teil der Bevölkerung, der im Ausland geboren ist. Die hier geborenen Kinder bleiben dabei außer Betracht, genauso die Staatsangehörigkeit. Nach dieser Definition lag der Anteil der Immigranten 2005 bei 12,6 Prozent. Das ist ein recht hoher Wert. Niedriger zwar als die Werte klassischer Einwanderungsländer wie Kanada, Neuseeland und Australien, die zwischen 18 und 22 Prozent liegen. Doch höher als bei Ländern wie Holland, Österreich oder Schweden, die auf Werte zwischen 10 und 12 Prozent kommen. Selbst die USA hatten im Jahr 2000 mit 11,1 Prozent einen deutlich kleineren Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung als Deutschland. Deutschland ist also tatsächlich ein Einwanderungsland.

Die Masseneinwanderung hält nun schon einige Jahrzehnte an und wird angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU um Rumänien und Bulgarien sowie der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit den anderen osteuropäischen EU-Ländern ab Mai 2011 auch in den nächsten Jahrzehnten nicht an Kraft verlieren. Wenn gar die Türkei aufgenommen wird, wird sich die Immigration sogar noch weiter beschleunigen.

Inwieweit die Zuwanderung die deutsche Kultur bereichert oder die Gesellschaft vor eine Zerreißprobe stellt, ist vielfach diskutiert worden. Auch aus ökonomischer Sicht ist das Urteil gemischt. Einerseits braucht das Land Einwanderer, um das wirtschaftliche Leben aufrechtzuerhalten. Selbst wenn man die neugeborenen Kinder der schon vorhandenen Immigranten, die ein Drittel aller Neugeborenen in Deutschland ausmachen, mit einrechnet, schrumpft die Zahl der bereits in Deutschland ansässigen Bevölkerung derzeit schneller als die Bevölkerung eines jeden anderen entwickelten Landes dieser Erde. Nur eine Fortsetzung der Immigration kann das Land stabilisieren. Ohne die Migranten würde der deutschen Wirtschaft weit mehr fehlen als die vielen Tore, die Miroslav Klose und Lukas Podolski bei der Weltmeisterschaft schießen.

Andererseits brauchen wir die indirekte Immigration in den Sozialstaat nicht, die nun schon drei Jahrzehnte lang stattfand. Es macht keinen Sinn, Millionen ausländischer Arbeitnehmer in das Land zu lassen, wenn die einheimischen gering Qualifizierten durch ein großzügiges Lohnersatzsystem veranlasst werden, in dem Maße das Feld zu räumen, wie die Immigranten kommen. Die starre Lohnuntergrenze, die in der Sozialhilfe und im Arbeitslosengeld II angelegt ist, weil niemand bereit ist, für weniger zu arbeiten, als der Staat für das Nichtstun zahlt, hat zu einem ganz unsinnigen Migrationsmuster geführt. Die Immigranten, die nicht anspruchsberechtigt waren, nahmen die Jobs, und die Einheimischen haben sich mehr oder weniger bereitwillig in den Sessel drücken lassen, den der Sozialstaat für sie bereithielt.

Bislang wurde diese wirtschaftliche Unvernunft durch neue Staatsschulden und Steuern gedeckt, die im Wesentlichen von den Gutverdienenden bezahlt wurden. Denn die untersten 40 Prozent der Einkommensbezieher zahlen in Deutschland keine Einkommensteuer, und die obersten 10 Prozent zahlen die Hälfte. Kein Wunder, dass die untersten Schichten der Gesellschaft nicht allzu viel gegen die Zuwanderung hatten. Viele begrüßten sogar, dass andere kamen, die noch tiefer standen als sie. Sie profitierten vom billigen Döner, und es störte sie auch nicht, dass der Müll von den Einwanderern abgeholt wurde. Es ist aber auch kein Wunder, dass die Steuerzahler das Weite suchen. Schon heute investieren die Deutschen um die Hälfte mehr im Ausland als im Inland, und auch die jungen Talente verlassen das Land.

Diesen Kurs kann sich Deutschland nicht länger leisten, denn die Umverteilung zulasten der Steuerzahler hat ihre Grenzen, auch wenn die große Koalition meint, sie immer weiter hinausschieben zu können, indem sie einen wachsenden Anteil des Sozialbudgets aus Steuermitteln finanziert. Die Fluchtreaktionen jedoch werden die Fortsetzung dieses Weges behindern, so sehr auch die demokratischen Kräfte auf seine Intensivierung drängen. Anstatt immer mehr Einkommen umzuverteilen, muss Deutschland sein Sozialmodell endlich überdenken und es für die Masseneinwanderung fit machen.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes.