Goldene Regeln

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 23.10.2006, S. 246

Hans-Werner Sinn über den Nobelpreis für das Wirtschaftswachstum

Carl Christian von Weizsäcker wird sicher ein wenig traurig sein, dass der Nobelpreis für die Entdeckung der goldenen Regel der Akkumulation nur an Edmund Phelps und nicht auch an ihn ging. Immerhin hat auch er, wie auch noch andere Forscher, diese Regel etwa zur gleichen Zeit wie Phelps erkannt und in seiner Dissertation beschrieben. Aber wie dem auch sei: Phelps ist ohne Zweifel ein großer Ökonom, der den Preis für seine vielfältigen Forschungsarbeiten hochverdient hat. Seine Arbeiten zum Trade-off zwischen Inflation und Beschäftigung sind schon für sich genommen preiswürdig, und auf jeden Fall gehört die goldene Regel zu den bahnbrechenden Erkenntnissen der Volkswirtschaftslehre.

Die wesentliche Erkenntnis ist, dass Investitionen gut sind, dass man aber auch des Guten zu viel tun kann. Eine Ökonomie, die dauerhaft mehr als ihre Kapitaleinkünfte investiert und bei der deshalb die Wachstumsrate des Kapitals über der Kapitalrendite liegt, ist "dynamisch ineffizient". Es wird im Übermaß Kapital gebildet: mehr als sinnvoll eingesetzt werden kann. Durch die Verringerung der Investitionen ließe sich der Konsum jetzt und auf alle Ewigkeit steigern.

Auf den ersten Blick kann man die Erkenntnis als Rechtfertigung der Theorie mancher linker Ökonomen sehen, die seit Jahr und Tag die Konsumsteigerung als Allheilmittel für Deutschlands Probleme sehen, die also Maßlosigkeit als Mittel zur Überwindung der Knappheit propagieren. Auch scheint die Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren darin ihre tiefere Begründung zu finden. So wird ja bisweilen argumentiert, eine Kapitaldeckung der Rentenversicherung sei eine Verschwendung von Mitteln, weil man durch die Verausgabung des Kapitals den heutigen Rentnern Vorteile verschaffen könne, ohne die zukünftigen Rentner zu schädigen. Die mittellosen Rentner könnten schließlich durch die Beiträge der nachfolgenden Generationen ernährt werden.

In Wahrheit zeigt die Erkenntnis, für die der Nobelpreis vergeben wurde, dass die tatsächliche Ökonomie vom Zustand der dynamischen Ineffizienz weit entfernt ist. Nirgendwo in der Welt waren bislang die Investitionen dauerhaft größer als die Gewinne, und nirgendwo überschritt die Wachstumsrate dauerhaft die Kapitalrendite. Die wirkliche Ökonomie ist deshalb dynamisch effizient - in dem Sinne, dass kein überflüssiges Kapital herumliegt, das man ohne Schaden für die Zukunft konsumieren könnte. Von der Überwindung der Knappheit durch Verschwendung kann also nicht die Rede sein.

Wäre die Kapitalrendite kleiner als die Wachstumsrate der Ökonomie, dann lebten wir in einem wahren Schlaraffenland. Bei einem umlagefinanzierten Rentensystem wie dem deutschen, bei dem die Rentenansprüche an die laufende Wirtschaftskraft gekoppelt sind, würde eine jede Generation für die Beiträge, die sie zur Finanzierung der Alten leistet, selbst im Alter mehr von der nachfolgenden Generation zurückbekommen, als es bei einer verzinslichen Kapitalmarktanlage der Fall wäre. Der Generationenvertrag wäre also geradezu ein Tischleindeckdich, auf dem sich die Rentner nach Belieben bedienen könnten, ohne die nachfolgende Generation zu schädigen.

Und was Peer Steinbrück erfreuen dürfte: Der Staat könnte die Zinsen auf seine Staatsschuld stets durch neue Schulden finanzieren, ohne dass die Schuldenquote, das Verhältnis von Staatsschulden und Sozialprodukt, anstiege. Zwar würden die Staatsschulden mit der Rate des Zinses wachsen, doch das Sozialprodukt würde den Schulden stets wieder davonwachsen.

Die goldene Regel der Akkumulation hat uns die Augen dafür geöffnet, warum solcherlei Vorstellungen utopisch sind und warum in der wirklichen Volkswirtschaft auch in der zeitlichen Perspektive das unangenehme Gesetz der Knappheit herrscht. Wer im Alter hohe Renten haben will, kann sich eben nicht auf den Generationenvertrag verlassen, und wenn es sich eine Volkswirtschaft heute gut gehen lässt, indem sie einen Teil der Staatsausgaben durch Schulden finanziert, dann muss sie dafür später die Zeche zahlen und den Gürtel entsprechend enger schnallen.

Deutschland sollte die Erkenntnisse beherzigen, für die der Nobelpreis vergeben wurde. Es muss seine Bürger zum Sparen veranlassen, um die absehbaren Defizite bei der umlagefinanzierten Rente auszugleichen. Die Riester-Rente, die auf freiwilliger Basis nur von einem Bruchteil der Bevölkerung akzeptiert wird, sollte zur Pflicht werden. Außerdem sollte die Sparrate erhöht werden. Ein Land, dem die Kinder fehlen, kann es sich nicht leisten, in Saus und Braus zu leben und Weltmeister beim internationalen Tourismus zu sein.

Parallel zur Erhöhung der Sparneigung muss freilich ein Klima geschaffen werden, das den Investoren wieder das Vertrauen gibt, dass sich ein Engagement auch in Deutschland lohnt. Trotz der guten Konjunktur hat Deutschland noch immer eine der niedrigsten Nettoinvestitionsquoten auf der Welt. Im Jahr 2004 lagen wir nach der neuesten Statistik mit nur 2,9 Prozent unter allen OECD-Ländern an vorletzter Stelle, und bislang gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Rangposition im Jahr 2005 verbessert haben könnte. Von der Gefahr, zu viel Kapital zu bilden, kann wahrlich nicht die Rede sein.

Außerdem sollte der Staat wirklich mit dem Sparen beginnen. Bloß den Maastrichter Vertrag einzuhalten reicht bei Weitem nicht. Der Staat muss endlich einmal Überschüsse erwirtschaften und seine Schulden tilgen, damit wir aufhören, die Interessen unserer Kinder mit den Füßen zu treten. Die goldenen Regeln der Vernunft dürfen nicht länger verletzt werden.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes.