Die dunkle Seite des Exportbooms

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Zeit, 25.01.2007, Nr. 5, S. 26

Deutschland hat für seinen Handelserfolg einen enormen Preis gezahlt: Stagnation und Massenarbeitslosigkeit in der Binnenwirtschaft

Von Hans-Werner Sinn

Deutschland feiert sich als Exportweltmeister. Die Freude ist aber verfrüht. Erstens ist Deutschland nur dann Weltmeister, wenn man Dienstleistungen wie Transporte, Software und Tourismus vom Export abzieht. Tatsächlich lag der deutsche Export im Jahr 2005 mit 1118 Milliarden Dollar eindeutig hinter dem der USA, die auf 1258 Milliarden Dollar kamen. Im Jahr 2006 dürfte der Rückstand ähnlich groß geblieben sein.

Zweitens liegt selbst auf dem Titel des Vizeweltmeisters insofern ein Schatten, als er nicht nur auf die Stärke der deutschen Wirtschaft zurückzuführen ist. Er kam auch zustande, weil eine über Jahrzehnte währende Hochlohnpolitik für einfache Arbeit viele arbeitsintensive Binnensektoren vernichtet hat. Der Export wuchs auf den Ruinen der arbeitsintensiv operierenden Binnenwirtschaft, die von der gewerkschaftlichen Lohnpolitik hinterlassen wurden.

Wie der Internationale Währungsfonds festgestellt hat, wies Deutschland eine ganz ungewöhnliche Stabilität der Lohnstruktur auf. Während sich diese Struktur in den anderen großen Industrieländern unter dem Einfluss der internationalen Niedriglohnkonkurrenz immer weiter ausspreizte, blieb sie bei uns starr.

Außerdem hat Deutschland noch immer die dritthöchsten Stundenlohnkosten für Industriearbeiter auf der ganzen Welt. Nach Meinung des Währungsfonds wurde in Deutschland der Lohn für einfache Arbeit weit über dem Niveau verteidigt, das durch das Spiel von Angebot und Nachfrage zustande gekommen wäre. Dafür hat das Land den zweifelhaften Titel des OECD-Weltmeisters bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten erworben.

Die hohen Arbeitslöhne haben die haushaltsnahen Dienstleistungen, die es früher gab, genauso vernichtet wie die arbeitsintensiven Industriesektoren, in denen Deutschland einmal stark war. Den Gärtner, den Koch und die Zugehfrau können sich selbst gut betuchte Bürger nicht mehr leisten, und von der Feinmechanik und Optik bis zu Leder und Textilien reicht die Palette der arbeitsintensiven Industriegüter, über deren Produktion nur noch unsere Väter berichten können. Der innerdeutsche Tourismus darbt wegen der Hochlohnpolitik, während unser Land, je nach Statistik, Weltmeister oder Vizeweltmeister bei den Auslandsreisen ist.

Schuld an dieser Entwicklung tragen nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch der Sozialstaat, der mit seinen Lohnersatzeinkommen die hohen Mindestlohnansprüche begründet hat, die Deutschlands Binnensektoren kaputt gemacht haben eine Erkenntnis, auf der die heutige Kombilohn-Debatte gründet.

Das Siechtum der Binnensektoren hat den deutschen Export noch befördert. Das Kapital und die Talente, die in den arbeitsintensiven Binnensektoren freigesetzt wurden, flohen nämlich in die kapital- und wissensintensiven Exportsektoren, wo sie nicht so viele von den allzu teuren Arbeitern mitbeschäftigen mussten.

Die Wertschöpfung im Export wurde aufgebläht, weil die Hochlohnpolitik die Produktionsfaktoren aus den Binnensektoren in die Exportsektoren getrieben und die Preise der Exportgüter relativ zu den mit den Importen konkurrierenden Binnengütern gesenkt hat. Es war wie beim Bauern, dessen Gersteproduktion zunahm, weil er sein Roggenfeld in ein Gerstefeld umwandelte.

Zu den arbeitsintensiven Sektoren, die verloren gingen, gehörten viele Vorstufen der Industrieproduktion. Der Ersatz dieser Vorstufen durch zusätzliche Aktivitäten in den Endstufen trieb Deutschland in die Richtung einer Basar-Ökonomie. Eine Basar-Ökonomie verdient ihre Wertschöpfung im Export, und sie schleust relativ zu dieser Wertschöpfung sehr viele Waren durchs Land, was die Exportstatistik zusätzlich aufbläht.

Ein Teil des aus den Binnensektoren verdrängten Kapitals ging zudem ins Ausland. Dass sich deshalb der deutsche Leistungsbilanzüberschuss vergrößert hat, der den Kapitalexport misst, kann nur Laien zum Jubel über die Wettbewerbsstärke des Landes veranlassen.

Im Prinzip war die Wanderung der Produktionsfaktoren von den Binnensektoren in die Exportsektoren nicht schlecht für Deutschland, denn so können Handelsgewinne entstehen. Das Problem war nur die Übertreibung dieser Wanderung wegen der Starrheit der deutschen Lohnstruktur. Hätte sich die Lohnskala ausgespreizt, wäre die Sektorwanderung der Produktionsfaktoren abgebremst worden, und es wären nicht gar so viele arbeitsintensive Binnenaktivitäten verloren gegangen.

Zwar wäre die Wertschöpfung im Export kleiner gewesen, doch hätte sich die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung schneller entwickelt, und vor allem hätte die Arbeitslosigkeit vermieden werden können. Ein flexibler Lohn für einfache Arbeit hätte wie eine Bremse im Strukturwandel gewirkt, die eine Feinsteuerung dieses Strukturwandels ermöglicht hätte.

Leider war die Bremse in Deutschland wegen der Lohnstarrheit blockiert. Deswegen kam es zu einer erdrutschartigen Bewegung in der Sektorstruktur von den Binnensektoren zu den Exportsektoren. Das hat zwar viele Kommentatoren zum Jubel veranlasst, doch zugleich eine Massenarbeitslosigkeit und eine allgemeine Wachstumsschwäche verursacht. Deutschland wurde nicht nur Vizeweltmeister beim Export, sondern war von 1995 bis 2005 zugleich Vizeschlusslicht beim Wachstum in Europa. Beides hängt ursächlich miteinander zusammen und ist leider gar kein Grund zum Feiern.