Basareffekt und pathologischer Exportboom

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Financial Times Deutschland, 06.05.2005, S. 26

Unsere Exportrekorde sind nur eine ungesunde Folge der überhöhten Löhne. Eine Antwort auf Peter Bofingers Kommentar vom 17. Mai

VON HANS-WERNER SINN

Die Fertigungstiefe der deutschen Industrie hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch verringert. Die Firmen verlagern die kundenfernen, arbeitsintensiven Teile der Vorproduktketten in Niedriglohnländer. Sie errichten dort Produktionsstätten (Offshoring), oder kaufen bei Vorlieferanten, die dort produzieren (Outsourcing).

Dies habe ich als Basareffekt karikiert. Der Basareffekt kann zwar grundsätzlich als Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung interpretiert werden. Er ist aber maßlos übertrieben, weil die hohen und starren deutschen Industrielöhne mehr Arbeitsplätze vernichten, als anderswo neu entstehen. Deutschland braucht Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems, um zu einer effizienten Reaktion auf die Globalisierung zurückzufinden.

Die Basar-Hypothese hat viel Kritik hervorgebracht, doch wurden die meisten Gegenargumente geklärt (Sinn, Basarökonomie Deutschland. Exportweltmeister oder Schlusslicht?, www.ifo.de). So ist in Deutschland der eigene Wertschöpfungsanteil der Industrie seit Anfang der 90er Jahre viel schneller gefallen als im Rest der alten EU oder auch im Durchschnitt der Länder USA, Japan, Großbritannien und Frankreich. Eine Analyse des Statistischen Bundesamtes belegt auch, dass der Importanteil deutscher Exporte von 1991 bis 2002 von 27 auf 39 Prozent stieg. Real und marginal gerechnet flossen im Schnitt bereits 55 Prozent in Importe von Vorleistungen und Handelsware.

Peter Bofinger stellt nun fest, dass die tatsächliche Zunahme der nominalen Importe von 2000 bis 2004 in Relation zur Zunahme der nominalen Exporte deutlich kleiner war (FTD vom 17.5.) Dies kann schwerlich als Gegenbeleg angeführt werden, da die 55 Prozent sich auf einen realen Effekt beziehen. Die Euro-Aufwertung hat die Importe verbilligt, so dass Nominalwerte fast stagnierten, während die Realwerte stiegen. Einen Widerspruch gibt es nicht.

Weiter wurde mir auch von Bofinger unterstellt, ich würde behaupten, mit der Spezialisierung auf Basar-Tätigkeiten müsse eine Abnahme (!) der Wertschöpfung im Export einhergehen, was aber nicht der Fall sei. Diese Verballhornung kann man leicht entlarven. Erstens ist die überproportionale Zunahme der Wertschöpfung im Export stets die natürliche Implikation der Spezialisierung. Zweitens gibt es einen pathologischen Exportboom, weil die hohen Löhne die arbeitsintensiven Sektoren zu schnell kaputt gemacht haben. Kapital und Arbeit wanderten notgedrungen in die kapitalintensiven Exportsektoren, wo sie mit den hohen Löhnen noch am ehesten zurecht kamen. Die Exportmengen steigen aus zwei Gründen zu schnell: Die Wertschöpfung im Export stieg wegen lohninduzierter Überspezialisierung zu schnell. Und der Export pro Einheit Wertschöpfung stieg zu schnell, weil sich die Überspezialisierung in einer Verlagerung von Up- zu Downstream-Aktivitäten äußerte. Der Motor wurde mit Vollgas gefahren, und das im höchsten Gang. Gesund war diese Fahrweise nicht, denn da die Exportsektoren bei starren Löhnen nur das Kapital und nicht die vielen freigesetzten Menschen aufsaugen konnten, lahmte zugleich das Wachstum und stieg die Arbeitslosigkeit.

Bofinger wendet nun ein, ein pathologischer Exportboom könne nicht vorliegen, weil dann auch die Investitionen hätten boomen müssen. Der Einwand ist abwegig, denn natürlich führen überhöhte Löhne zu niedrigen, nicht zu hohen Investitionen. Auch bei Nettoinvestitionen von Null können die hohen Löhne einen Teil des Kapitals, das über Abschreibungen in den arbeitsintensiven Sektoren frei wird, in die Exportsektoren treiben.

Bofingers Argument, Deutschland habe noch zu viel Industrie und zu wenig Dienstleistungs-Basare ist Semantik. Basartätigkeit im Sinne meiner Hypothese ist die Tätigkeit in den industriellen Endstufen der Produktion, nicht bei der Dienstleistung. Der Strukturwandel vollzieht sich in der Vertikalen, von den Vorstufen zu den Endstufen der Produktion, und er funktioniert nicht gut, wie die Arbeitsmarktstatistik zeigt. Von 1995 bis 2004 sind im verarbeitenden Gewerbe netto 1,1 Millionen vollzeitäquivalente Stellen verloren gegangen. Und leider hat der Rest der Wirtschaft die entlassenen Industriearbeiter nicht aufgenommen. Dort entfielen noch einmal 0,17 Millionen Stellen.

An diesen Zahlen lässt sich nicht rütteln, schon gar nicht mit Bofingers Hinweis auf Branchen mit schrumpfender Beschäftigung. Die Summe der Schrumpfungen in Branchen, die schrumpfen, ist bei feiner Gliederung der Sektoren immer größer als die Schrumpfung in einem wohl definierten Großaggregat, wo dann ja nur der Saldo der Schrumpfungen und Zunahmen betrachtet wird. Der Erkenntniswert ist Null.

Dass im Bau auch sehr viele Stellen verschwunden sind, bestätigt nur die These, dass die hohen und starren deutschen Löhne die arbeitsintensiven Sektoren zu schnell kaputt machen. Angesichts hoher Baupreise fahren viele lieber in Ferien, als zu versuchen, es sich in Deutschland schönzumachen. Deutschland wurde letztes Jahr Weltmeister beim Tourismus.

Nun zur angeblich geringen Bedeutung des Arbeitsplatzaufbaus in Osteuropa. Die Mikrodatenbank der Bundesbank zeigt, dass die Zahl der mit den Beteiligungsanteilen gewogenen Beschäftigten in Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in allen osteuropäischen Beitrittsländern von 3000 in 1989 über 198 000 in 1995 bis auf 560 000 in 2001 gestiegen ist - im letzteren Zeitraum lag der Anstieg im Schnitt bei 19 Prozent oder 60 000 Stellen jährlich. Bofinger gibt nur aber für den Dreijahres-Zeitraum 2000 bis 2003 (ohne die drei baltischen Länder) nur 7 000 Stellen an - gerade einmal ein Sechsundzwanzigstel. Dabei übersieht er, dass die Meldefreigrenze 2002 deutlich erhöht wurde, was die Zahl der erfassten Firmen binnen Jahresfrist um über 40 Prozent senkte. Seine Zahl misst einen Strukturbruch in der Statistik. Rechnet man die Entwicklung von 1995 bis 2001 hoch, müssten deutsche Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung bis Ende dieses Jahres etwa 800 Tausend Personen in den Ost-EU-Ländern beschäftigen, vermutlich dann schon mehr als in den USA.

Auch Bofingers Angaben zu den Direktinvestitionen sind zu relativieren. Laut Eurostat war der von Deutschland in den Ost-EU-Ländern investierte Kapitalstock 2002 größer als der von England und Frankreich zusammen investierte Kapitalstock und viel größer als der amerikanische. Von "verhaltener Investitionstätigkeit im Ausland" kann keine Rede sein. Das gilt umso mehr, als die Zahlen nur die Direktinvestitionen im Sinne des Offshoring darlegen. Arbeitsplatzexport im Wege des Outsourcing wird genauso wenig erfasst wie der Export über Finanzkapitalströme, der wesentlich größere Ausmaße hat und das Hauptvehikel der Arbeitsplatzverlagerung ist. Insgesamt lag der Nettokapitalexport Deutschlands im letzten Jahr mit 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder 86 Mrd. E auf historischem Rekordniveau.

Summa Summarum bleibt außer der semantischen Kritik Bofingers, dass die High-Tech-Produkte der deutschen Industrie die "Assoziation von Ramsch und Trödel" nicht verdienen, nichts übrig. In diesem Punkte bekenne ich freilich tiefe Reue und versichere, dass auch mir die deutschen Produkte sehr leid tun. Ich bitte für meine blasphemische Begriffswahl um Vergebung.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo Instituts in München.