Taagepera

Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, 11.06.2007, Nr. 24, S. 162

Hans-Werner Sinn über Osteuropa und den Vorteil des ersten Spielzuges

Auf granitenem Sockel, hoch aufgereckt, seinen mächtigen Turm und seine verschachtelten Dächer dem Himmel entgegenstreckend, steht der monumentale Jugendstilbau Taagepera als Trutzburg gegen das Vergessen in der grünen Urlandschaft Estlands. Taagepera liegt südlich der alten Universitätsstadt Tartu (mit deutschem Namen Dorpat), nahe der lettischen Grenze. Es ist eines der 438 estnischen Herrenhäuser, die überwiegend Baltendeutschen gehörten und die Revolution von 1919 sowie ein halbes Jahrhundert russischer Besatzung überlebt haben.

Ursprünglich hat es einmal 1200 solch imposanter Herrenhäuser gegeben. Sie waren Zeugen einer 700-jährigen deutsch- baltischen Geschichte, die mit der Christianisierung und den ersten Siedlungen des deutschen Ritterordens im 13. Jahrhundert begann und mit den Enteignungen nach dem Ersten Weltkrieg, spätestens aber mit dem Molotow-Ribbentrop-Plan von 1939, endete, der die Baltendeutschen zwang, ihre Heimat zu verlassen.

Der Name Taagepera wechselt vom Reiseführer in das Lehrbuch der Ökonomie, sobald man gewahr wird, dass es sich hier um eine lautmalerische Übertragung des Namens von Stackelberg in das Estnische handelt. Heinrich Freiherr von Stackelberg war einer der Begründer der "ökonomischen Spieltheorie, die durch John von Neumann und Oskar Morgenstern sowie später Reinhard Selten, Deutschlands einzigen Nobelpreisträger der Volkswirtschaftslehre, weiterentwickelt wurde und heute nicht nur in diesem Fach eine zentrale Rolle einnimmt, sondern sich auch in anderen Disziplinen, von der Politologie bis zur Evolutionsbiologie, behauptet hat. Die Familie von Stackelberg war lange Zeit Eigentümerin des Landgutes Taagepera.

Das weltweit bekannte und millionenfach zitierte Modell von Stackelbergs beschreibt den Vorteil des ersten Spielzuges. Wenn zwei oder mehrere Akteure sich in einer strategischen Konfliktsituation befinden, hat häufig derjenige die besten Erfolgsaussichten, der sich zuerst entscheidet und damit Fakten schafft, an die sich die anderen nur noch anpassen können. Ein wenig erbauliches, aber einsichtiges Beispiel ist der Krieg, bei dem derjenige, der den ersten Schachzug tut, häufig die größten Siegesaussichten hat, was leider den Kriegsbeginn beschleunigt, wie man in der Geschichte häufig sehen konnte. Von Stackelbergs Erkenntnisse zeigen, wie wichtig es ist, die Waffen abzurüsten, die sich für den Erstschlag eignen, um damit die Kriegsgefahr zu bannen.

Ein anderes Anwendungsbeispiel der Theorie von Stackelbergs ist die Industriepolitik unserer französischen Nachbarn. Von jeher versuchen die Franzosen, ihrer Industrie durch staatliche Hilfen einen Vorsprung bei der Besetzung strategischer Positionen in Europa zu verschaffen. Wenngleich dieses Unterfangen in der Praxis nicht immer so erfolgreich war wie in der Theorie, belegt es doch die Bedeutung der Analyse von Stackelbergs. Immerhin besagt diese Analyse, die in viele Modelle der Außenhandelstheorie Eingang gefunden hat, dass ein Land prinzipiell Vorteile erzielen kann, indem es anderen Wettbewerbern Gewinne abspenstig macht, wenn es seiner Industrie hilft, seine Marktanteile frühzeitig zu sichern.

Heinrich von Stackelberg selbst könnte seine Theorie aus der Erkenntnis abgeleitet haben, dass die deutschen Ordensritter, die ihre Burgen als Erste im Baltikum aufbauten, Macht und ökonomischen Wohlstand für 700 Jahre sichern konnten. Die deutschen Händler und Gutsbesitzer zwischen Riga, Reval, Narva und Dorpat, mächtigen Städten der deutschen Hanse, haben sich über die Jahrhunderte hinweg gegen die formelle Staatsgewalt der Dänen, Schweden und Russen behaupten können und in Kurland und Livland eine kulturelle Basis geschaffen, von dem die neuen EU-Staaten des Baltikums bis zum heutigen Tage zehren.

Die deutsche Industrie wiederholt derzeit unter anderem Vorzeichen in Osteuropa, was Hanse und Ordensritter vorgemacht haben. Sie schafft mit ihren Direktinvestitionen eine neue industrielle Basis, die den neuen EU-Ländern hilft, Anschluss an den westlichen Wohlstand zu finden. Deutschland investierte letztes Jahr trotz der zunehmenden heimischen Investitionsgütemachfrage netto wesentlich mehr im Ausland als im Inland. Es hat über die letzten Jahrzehnte auf dem Wege der Direktinvestitionen 2,2 Millionen mehr Stellen im Ausland geschaffen, als umgekehrt von Ausländern in Deutschland eingerichtet wurden: in den neuen EU-Ländern seit Mitte der Neunzigerjahre bald so viele wie seit den Fünfzigerjahren in den USA.

Deutschland hat über die Zeit hinweg mehr Geld direkt in den osteuropäischen EU-Ländern investiert als Frankreich, Großbritannien und die USA zusammen genommen. Das alles ist ein dauerhafter strategischer Vorteil für die deutsche Industrie, der sich auch bei den amerikanischen Private-Equity-Gesellschaften herumgesprochen hat, und zugleich ein Vorteil für die Osteuropäer, die von neuen Arbeitsplätzen und wachsenden Löhnen profitieren.

Lettland und Estland könnten auch vom deutschen Tourismus profitieren, wenn die deutschen Reiseweltmeister begreifen würden, wie schön und reich an Kulturschätzen diese Länder sind. München hat ungefähr so viele Einwohner wie Estland, aber es hat nur ein paar Dutzend Gebäude von der Pracht, wie sie in Estland zu Hunderten herumstehen. Manche der Herrenhäuser sind bereits zu Hotels ausgebaut worden. Andere warten noch auf kaufkräftige Investoren, die den verblichenen Charme wieder erwecken. Taagepera jedenfalls ist eine Reise wert.