Letzte Chance

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 23.06.2005, S. 174

Hans-Werner Sinn über die fünf wichtigsten Reformen für Deutschland

Der Tag der Wahrheit nähert sich. Die Parteien müssen nun sagen, was sie wollen - wie sie Deutschlands Arbeitsmarkt für den Sturmwind der Globalisierung rüsten wollen. Die fehlende internationale Wettbewerbsfähigkeit einer wachsenden Zahl deutscher Arbeitnehmer ist die Hauptursache der Wachstumsschwäche, der Investitionsmüdigkeit und der Massenarbeitslosigkeit. Globalisierung und weltweite Niedriglohnkonkurrenz aus den ex-kommunistischen Ländern sind durch Bildungsoffensiven, Steuerreformen oder Innovationsprogramme allein nicht zu meistern, so notwendig diese Maßnahmen sind. Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand und muss kämpfen.

Dies ist wahrscheinlich die letzte Chance, die Kurve zu kriegen, bevor in zehn bis fünfzehn Jahren die demographischen Probleme überhand nehmen. Hier ist die Liste der fünf wichtigsten, sofort notwendigen Reformen, an der sich die neue Regierung messen lassen muss, wenn sie ihrer historischen Verantwortung gerecht werden will. Zudem müsste sie sich der Bevölkerungspolitik zuwenden, aber das sei hier nicht das Thema:

Als Erstes muss sie die Staatsfinanzen in Ordnung bringen, die Schmach des Maastricht-Sünders abschütteln, indem sie eiserne finanzielle Disziplin übt. Die nötigen Grausamkeiten begeht sie am besten gleich zu Anfang. Je nach Rechnung stehen zwischen 70 Milliarden und 150 Milliarden Euro staatliche Subventionen zur Disposition. Solide Staatsfinanzen sind das A und O einer jeden nachhaltigen Politik. Ohne sie geht gar nichts.

Der Arbeitsmarkt ist vor allem bei den gering Qualifizierten und bei den Alten kaputt, und zwar in beiden Fällen, weil die Löhne höher sind als die Produktivität, was selbst wiederum an der Lohnpolitik der Gewerkschaften und der Lohnkonkurrenz des Sozialstaates liegt. Hier muss die Regierung zunächst ansetzen.

Die zweite Reformmaßnahme ist deshalb die aktivierende Sozialhilfe für Geringverdiener. Die gering Qualifizierten wurden durch die Sockellohnvereinbarungen der Gewerkschaften und durch das staatliche Sozialsystem, das hohe Anspruchslöhne aufbaute, aus dem Markt herausgepreist. Deutschland wurde unter den OECD-Ländern zum Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten. Um das zu ändern, muss sich die Lohnskala sozialverträglich nach unten hin spreizen. Man muss dem weltweiten Lohndruck nachgeben und die Verlierer durch einkommensabhängige Lohnzuschüsse kompensieren. Die aktivierende Sozialhilfe bietet einen konsistenten Weg dahin. Sie kostet nicht mehr Geld als das alte Sozialsystem, verteidigt die Einkommen der gering Qualifizierten wirksam und entfaltet zugleich einen gewaltigen Beschäftigungsschub.

Die dritte Reformmaßnahme ist die Frühverrentung bei freiem Hinzuverdienst. Sie bringt den Arbeitsmarkt für ältere Bürger wieder in Ordnung, die unsinnigerweise durch die Anciennitätsentlohnung der Tarifsysteme und lukrative Frühverrentungsmodelle aus der Arbeitswelt vertrieben wurden.

Wie bei der aktivierenden Sozialhilfe ist auch hier die Idee, die Löhne auf das markträumende Niveau fallen zu lassen und ein Sozialeinkommen dazu zu zahlen. Man kann die vorhandene Frührente zu einer solchen Zuzahlung machen. Wer die Frührente beziehen will, kann weiterarbeiten, wenn er sein altes Arbeitsverhältnis zuvor kündigt und einen neuen Vertrag zu neuen Bedingungen abschließt. Da versicherungsmathematisch korrekte Rentenabschläge vorgenommen werden, entstehen dem Staat keine Kosten. Es entwickelt sich ein neuer Arbeitsmarkt für Ältere, auf dem zwar niedrigere Löhne gezahlt, doch weniger aufreibende Tätigkeiten verlangt werden. Wegen der niedrigeren Löhne entstehen neue Stellen, und die Einkommen lassen sich in der Summe aus niedrigem eigenen Lohn und Frührente wirksam verteidigen.

Die vierte Reformmaßnahme besteht aus der Einführung von Öffnungsklauseln für Tarifverträge. Flächentarife sind Kartellvereinbarungen. Sie hindern den Einzelbetrieb an einer wirksamen Lohnkonkurrenz, treiben den Lohn über das markträumende Niveau hinaus und erzeugen so Massenarbeitslosigkeit. Die Kartelle müssen durch eine Stärkung der Tarifautonomie auf betrieblicher Ebene gebrochen werden. Gesetzlich vorgesehene Öffnungsklauseln sollten den Betrieben die Möglichkeit geben, auf dem Wege einer freiwilligen betrieblichen Vereinbarung auch nach unten hin vom Tariflohn abzuweichen, wenn zwei Drittel der Belegschaft dies wollen. Dazu muss auch das Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsgesetzes fallen.

Die fünfte Reform besteht in der Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz nach dänischem Muster. Sie sollte unter Wahrung eines Bestandsschutzes bei den bestehenden Verträgen für alle neuen Arbeitsverträge erlaubt werden. Heute sind Verträge ohne Kündigungsschutz verboten, denn es gibt den gesetzlichen Kündigungsschutz. Wird es den Arbeitnehmern freigestellt, die Vertragsbedingungen mit ihrem Arbeitgeber selbst auszuhandeln, werden sich zwei Typen von Verträgen herausbilden: Verträge für Mutige ohne Schutz mit hohem Lohn und Verträge für Ängstliche mit Kündigungsschutz und niedrigerem Lohn.

Jeder kann wählen, was ihm passt, doch die meisten werden sich wohl gegen den Kündigungsschutz und für höheren Lohn entscheiden. Die Betriebe werden es dann wieder eher wagen, neue Stellen zu schaffen, die Arbeitnehmer sind eher zum Wechsel zwischen verschiedenen Betrieben bereit, und die Gewerkschaften sind bei ihren Lohnforderungen vorsichtiger, weil sie wissen, dass ein Überziehen auch ihre eigene Klientel mit Arbeitslosigkeit bedroht.

Der Strukturwandel wird erleichtert, und wirtschaftliche Dynamik kehrt in unser Land zurück.