Was München so lebenswert macht

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung online, 02.03.2008

In München sind Wissenschaft und Kunst zu Hause. Die Sonne scheint öfter als in anderen Städten. Und: Die Münchener haben immer sorgfältig auf ihre historischen Gebäude geachtet.

Als mein Amtsvorgänger Prof. Hans Möller nach dem Krieg für die amerikanische Besatzungsmacht die Wohnungen in der Münchner Innenstadt registrieren musste, fand er gerade noch eine einzige, die bewohnt war. Wie auch die anderen Städte Deutschlands war München nur noch ein großer Steinhaufen, aus dem einzelne Gebäude und Fassaden herausragten. Den Neuaufbau hätte man kostengünstig nach neuen Plänen realisieren können, wie das vielerorts geschah.

Nicht so mit Bürgermeister Thomas Wimmer. Er setzte durch, dass alles genau wieder so aufgebaut wurde, wie es war, denn er wusste, dass der klügste Architekt auf dem Reißbrett nicht verbessern konnte, was in Jahrhunderten gewachsen war. Auch die Bayerische Staatsregierung verfolgte diese Linie. Allein der originalgetreue Wiederaufbau der total zerstörten Residenz verschlang 220 Mill. Euro. Sie taten Recht daran, denn so wurde die Stadt erhalten, die bei internationalen Städterankings häufig in der Spitzengruppe der lebenswertesten Städte abschneidet. Nach Reader´s Digest ist München die Nummer 3 hinter Stockholm und Oslo, und in einer vergleichenden Studie der Zeitschrift Monocle, wie kürzlich in der New York Times und der International Harold Tribune zu lesen war, ist es gar die Nummer 1 der ganzen Welt.

Neben der Pflege des historischen Erbes gibt aber noch viele andere Gründe für die Spitzenposition. Dazu gehört auch der enorme Schub, den die Stadt durch die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele von 1972 erhielt. U- und S-Bahn-System, Fußgängerzonen, Stadien, Straßentunnels und viele andere Investitionen zur Vorbereitung auf die Spiele trugen das Ihre zur Erhöhung der Lebensqualität bei. Im Inneren Münchens findet man keine Hochstraßen, die die Stadt zerschneiden wie in Hannover oder Magdeburg, wo ein fragwürdiger Geist der Moderne sich hemmungslos austoben durfte. Alles, was hässlich, aber notwendig ist, wurde in München unter die Erde verbannt.

München hat sich behutsam modernisiert

München setzte auf die behutsame Modernisierung, die von Respekt vor den Bauten früherer Generationen getragen war. Innerhalb des Mittleren Rings, immerhin ein Gelände von 6 bis 8 km Durchmesser, durften keine Hochhäuser gebaut werden. Das einzige Hochhaus an der Münchner Freiheit, das nach dem Krieg errichtet worden war und von dem aus die bekannten München-Bilder mit den Bergen im Hintergrund geschossen wurden, musste später wieder auf Normalmaß heruntergestutzt werden.

München hatte historisch überhaupt keine Standortqualitäten. Dass es neben so prächtigen Städten wie Nürnberg, Freising, Augsburg oder Passau entstehen konnte ist einer politischen Entscheidung Heinrichs des Löwen zu verdanken, der die Isar-Brücke bei Freising zerstörte, und bei einem Mönchskloster, der Villa Munichen, eine neue Brücke bauen ließ, um von den Augsburger Salzhändlern Zollgebühren kassieren zu können. Was die Stadt heute ausmacht, ist von Menschenhand geschaffen und gehört zu dem, was man die weichen Standortfaktoren nennt.

Ludwig I. hat aus der Stadt ein kleines Athen gemacht

Gerade deshalb konnte München zu einer Metropole des Geistes werden. Schon unter Ludwig I zog es preußische Wissenschaftler in Scharen nach München. Die zwei Eliteuniversitäten der Stadt, die Zentrale der Max-Planck-Gesellschaft, das Genzentrum, das Zentrum der deutschen IT-Industrie, die Medienwirtschaft, das Weltzentrum der Rückversicherung und die vielen Zentralen von DAX-Unternehmen, die man in München findet, zeugen davon, wie wichtig auch heutzutage die weichen, immateriellen Standortqualitäten sind. In ökonomischer Hinsicht war die Betonung dieser Qualitäten kein Schaden. Mit einem Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Höhe von 53 Tausend Euro lag München im Jahr 2005 unter 440 kreisfreien Städten, Landkreisen und Stadtstaaten an 12-ter Stelle in Deutschland, und dank des Münchener Umfeldes gehört Oberbayern heute zu den zehn reichsten Regionen Europas.

München wäre nicht das geworden, was es ist, wenn es nicht Ludwig I gegeben hätte, der das von Napoleon gerade erst vom Herzogtum zum Königreich aufgewertete Bayern von 1825 bis 1848 regierte. Begeistert von den Bauwerken der Antike ließ der kunstsinnige Monarch um den Königsplatz ein kleines Athen entstehen und erlaubte es seinem Baumeister Leo von Klenze, in der Ludwigstraße ein neues Florenz zu errichten. So wie Verona als die südlichste Stadt Deutschlands gilt, ist München die nördlichste Italiens. Kein Wunder, dass in der Stadt mehr als 40 Tausend Italiener und Griechen sesshaft wurden.

Einwanderer und Touristen beleben München

Überhaupt ist München eine Stadt, die sehr von der Zuwanderung profitiert hat. Nach dem Krieg kamen viele Tausende Sudetendeutsche, die mit ihrem Fleiß und Können erheblich zum Wiederaufbau und zur wirtschaftlichen Entwicklung Münchens beigetragen haben. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dominiert die Immigration aus Süd- und Osteuropa. Mehr als ein Drittel der Münchner Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund.

Hinzu kommen die vielen Touristen, die die Stadt besuchen. Mit 8,9 Millionen Übernachtungen im Jahr 2006 wird München nur noch von Berlin übertroffen. Viele kommen wegen der Museen, von denen München in der Tat sehr viele hat. Die alte Pinakothek, die neue Pinakothek, die Pinakothek der Moderne, das Haus der Kunst, das Lenbachhaus und viele andere Kunstmuseen bergen ungeahnte Schätze, zu denen Heerscharen von Besuchern pilgern. Das Deutsche Museum bietet in Europa den umfassendsten Überblick über die Entwicklung der Technik von der Antike bis in die Gegenwart. Nur das Smithsonian National Air and Space Museum in Washington bietet Vergleichbares.

München ist eine pulsierende Metropole der darstellenden Künste. Neben den weltweit bekannten Bavaria Filmstudios gibt es zwei Opern, viele Theater und eine Fülle von Kabaretts und Kleinkunstbühnen. Dem berühmten Komiker Karl Valentin, der mit seinem tiefsinnigen Humor zu den Wegbereitern des absurden Theaters zählt, haben die Münchner ein Denkmal auf dem Viktualienmarkt und ein eigenes Museum gewidmet.

Und am Wochenende: ins idyllische Alpenvorland oder ein prächtiges Kloster

Zur Lebensqualität der Stadt trägt ihr Umfeld maßgeblich bei. Die Seen im Süden mit ihren Ausflugsschiffen und die Königsschlösser, für die Ludwig II die Staatskasse geplündert hatte, prägen das Bild des Alpenvorlandes genauso wie die von steinigen Böden erzwungenen Wiesen mit ihren malerischen Bauernschaften und den Kirchen mit den Zwiebeltürmen mittendrin. Dazu kommen die vielen prächtigen Klöster und die Kleinstädte mit ihren barocken Marktplätzen und winkeligen Gassen, die von langer Tradition zeugen.

Schon vor 100 Jahren, nachdem ein dichtes Eisenbahnnetz zu den umliegenden Städten geschaffen war, zog es die Münchner am Wochenende zum Wandern in die Sommerfrische. Man brachte seine Brotzeit mit und verzehrte sie bei einer frischen Maß in den Biergärten. (Ja, es ist die Maß, nicht das Maß oder der Maß, wie einmal Wirtschaftsminister Rexrodt unter lautem Gelächter der Anwesenden meinte.) Wer heute am Wochenende mit dem Auto in die Sommerfrische fahren möchte, wird die Idylle angesichts der vielen Staus vielleicht nicht mehr ganz so empfinden, aber er ist selber schuld. S-Bahn und Zug bringen einen noch immer ungestört zu den schönsten Biergärten der Gegend.

Die Biergartenkultur, die sich von München aus in der ganzen Welt verbreitet hat, hat übrigens ökonomische Gründe. Zur Kühlung der unterirdischen Bierlager wurden Kastanien gepflanzt, und im Schatten der Kastanien ließ man es sich gut gehen, wenn das Wetter mitspielte.

Mehr Sonne als in anderen Städten

Das tut es in der Tat sehr häufig. Dank des Föhns hat München mehr Sonnentage als die anderen großen Städte Deutschlands. Der Föhn ist ein Wind, der manchmal aus Italien kommt, bei seinem Weg über die Berge abregnet und dank der so entstehenden Kondensationswärme im Norden der Alpen wärmer ist als im Süden. Bei einigen verursacht er Kopfschmerzen, weil er plötzlich kommt und recht wenig Sauerstoff enthält, aber die meisten können die herrliche Föhnluft und den Sonnenschein genießen, nicht zuletzt die vielen Touristen, vor deren Blick sich das Alpenpanorama öffnet. Ein alteingesessener Münchner kommentierte den Föhn einmal mit dem Satz: "Heut hams das Gebirg für die Preißn wieder hergschobn."

Den Föhn genießen die Münchner nicht nur in den Biergärten und bei Wanderungen, sondern auch an den Isarstränden im Süden der Stadt, wo insbesondere die Jugend fröhliche Partys feiert. Die Nackedeis der Isarstrände, die an die griechischen Schönheiten aus der Glyptothek Ludwigs I erinnern, ziehen im Sommer bis in den Englischen Garten hinein, wo sie sich ungezwungen unter wohl situierte Bürger mischen, die dort promenieren. Der Englische Garten ist der größte Stadtpark Europas, aber er ist nicht der einzige Park Münchens. Überall in der Stadt findet man öffentliche Gärten und Grünflächen. Besonders schön ist der barocke Nymphenburger Schlosspark. Im Münchner Stadtbild begegnet man auch heute noch bezaubernden und anmutigen Frauengestalten, wie sie Ludwig I für seine Schönheitengalerie im prachtvollen Schloss Nymphenburg portraitieren ließ.

Die Münchner sind nicht prüde, und sie verstehen es zu leben. Das Oktoberfest kennt jeder, aber wer nicht in Tracht auf den Bänken mitgetanzt hat, der weiß nicht, was es wirklich bedeutet. Alle sozialen Schichten kommen dorthin und feiern die letzten Tage des Sommers gemeinsam. Das Gefühl, eins zu werden mit den Massen und sich bei Musik und gutem Bier gemeinsam zu berauschen, kittet die Gesellschaft mehr als jedes Sozialprogramm. Dass es neben dem Oktoberfest noch viele Gelegenheiten gibt, das Brauchtum zu pflegen, sei nur am Rande erwähnt. Dazu gehören die Maibaumfeste und die Bauerntheater genauso wie die fünfte Jahreszeit zum Ausgang des Winters, wenn das Starkbier ausgeschenkt wird. Dann treffen sich die Münchner zum Politiker-Derblecken am Nockherberg, und die Bauern der umliegenden Gemeinden finden in ihren Trachten zum Steinelupfen zusammen.

Es werden viele Klischees über München verbreitet, und sie stimmen fast alle. Die Bilder von Laptop und Lederhose und von der Bussi-Gesellschaft, die auch den prüdesten Preußen sogleich in ihren Bann zieht, sind völlig korrekt. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.