"Mindestlöhne unterminieren die Gesellschaft"

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Süddeutsche Zeitung, 01.04.2008, Nr. 76, S. 22

Der Streit um die Geringverdiener: Was der Staat tun sollte und was nicht, um die Einkommen zu erhöhen

Deutschland hat schon seit langem eine Lohngrenze nach unten - der Schaden ist gewaltig. Ein Plädoyer für den besseren Sozialstaat / Von Hans-Werner Sinn

Selten hat ein wirtschaftspolitischer Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung solch eine Flut an kritischen Leserbriefen ausgelöst wie "Der dümmste Spruch des Jahres" von Hans-Werner Sinn: Der Präsident des Münchner ifo-Instituts plädierte vehement gegen die Einführung des Mindestlohns. In dieser Ausgabe antwortet der Ökonom seinen Kritikern.

Deutschland muss nicht rätseln, wie Mindestlöhne wirken, denn es hat sie schon. Der deutsche Sozialstaat ist auf der Idee des Lohnersatzes gegründet. Ob man an die Frührente oder das Arbeitslosengeld denkt: Immer fließt das staatliche Geld, wenn man nicht arbeitet, und versiegt in dem Maße, wie man es tut. Dadurch wird bereits eine Art Mindestlohn begründet: Niemand arbeitet für weniger Geld, als der Staat unter der Bedingung, dass man nicht arbeitet, zur Verfügung stellt.

Unter Willy Brandt, Helmut Schmidt sowie unter der Regierung Kohl wurde ein Sozialgesetz nach dem anderen beschlossen, das mehr staatliches Geld unter der Bedingung der Nichtarbeit zur Verfügung stellte und damit immer höhere Mindestlohnansprüche begründete. So haben sich die Sozialhilfeleistungen pro Kopf (inklusive der Nebenleistungen) von 1970 bis 2005 fast auf das Vierfache erhöht, während der durchschnittliche Nettolohn je Arbeitnehmer nur auf etwas mehr als das Dreifache anstieg. Die Verbesserungen beim Arbeitslosengeld, vor allem die Einführung der Arbeitslosenhilfe und der Frührente haben die impliziten Mindestlohnansprüche des deutschen Sozialsystems ebenfalls erhöht. Die Konsequenz war mehr Arbeitslosigkeit. Von 1970 bis 2005 stieg die westdeutsche Arbeitslosigkeit von 150 000 auf 3,45 Millionen - also von 0,6 auf 9,6 Prozent der Erwerbspersonen. Deutschland besetzte in der OECD-Statistik der arbeitslosen Geringqualifizierten mit großem Abstand die Spitzenposition.

Wunder der Agenda 2010

Auch die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern wird durch Mindestlöhne erklärt. Einerseits hatten dort die westdeutschen Arbeitgeber 1991, vor der Privatisierung der Wirtschaft, hohe tarifliche Mindestlöhne durchsetzen können, um ihre westdeutschen Industrien vor der potenziellen Konkurrenz der Japaner und all der anderen zu schützen, deren Eintritt in die Treuhandfirmen man befürchtete. Andererseits hat das westdeutsche Lohnersatzsystem, das den neuen Ländern übergestülpt wurde, extrem hohe implizite Mindestlöhne gesetzt, die weit über der Produktivität der neuen Länder lagen. Kein Wunder, dass die neuen Länder seit 1995 langsamer als die alten Länder gewachsen sind.

Gerhard Schröder und Wolfgang Clement haben diesen für unser Land verheerenden Entwicklungstendenzen ein Ende gesetzt. Mit der Agenda 2010 wurden die impliziten Mindestlöhne des deutschen Sozialsystems gesenkt, weil der Staat im Rahmen des Arbeitslosengeld-II-Systems weniger fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen zahlt. Das Arbeitslosengeld I wird nicht mehr so lange gezahlt, die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft, und vor allem wurde im Rahmen von Hartz IV ein Lohnzuschusssystem eingerichtet, von dem derzeit 1,3 Millionen Erwerbstätige als so genannte Aufstocker profitieren. Mit den Lohnzuschüssen wird das Problem der working poor, der arbeitenden Armen, wirksam verhindert. Sie machen es möglich, dass Stellen, die nur mit geringer Produktivität und bei niedrigen Löhnen verfügbar sind, tatsächlich bereitgestellt werden und dass gleichzeitig ein Mindesteinkommen gesichert bleibt.

Die Agenda 2010 hat ein Wunder auf dem Arbeitsmarkt bewirkt, denn der derzeitige Aufschwung Deutschlands ist der erste seit einem drittel Jahrhundert, bei dem die Sockelarbeitslosigkeit Westdeutschlands nicht höher als im vorangehenden Aufschwung war; ja, sie wird in diesem Jahr sogar um 200 000 Personen niedriger ausfallen. Bislang war die westdeutsche Sockelarbeitslosigkeit von Aufschwung zu Aufschwung um etwa 800 000 Personen gestiegen. Der Gewinn an Arbeitsplätzen allein in Westdeutschland, der auf die Senkung der deutschen Mindestlöhne zurückzuführen ist, liegt also etwa bei einer Million.

Die Politik sollte sich bemühen, Deutschlands neue Beschäftigungsdynamik über den drohenden Abschwung hinaus zu erhalten. Das kann durch eine konsequente Fortentwicklung der Agenda 2010 geschehen, wie sie vom ifo Institut unter dem Namen "aktivierende Sozialhilfe" schon vor längerer Zeit vorgeschlagen wurde. Im Wesentlichen geht es darum, dauerhaft höhere Zuzahlungen zum Lohn zu leisten, indem die Hinzuverdienstgrenze beim Arbeitslosengeld II von 100 auf 500 Euro erhöht und der Entzug der Unterstützung bei Einkommen jenseits von 500 Euro verringert wird. "Mindesteinkommen statt Mindestlohn" ist die Devise.

Durch die Erhöhung der Zuzahlungen würde keineswegs ein Heer von Tagelöhnern entstehen, wie ein Leser meint, denn auf allen neuen Stellen können vollwertige Arbeitsverhältnisse mit dem gleichen Kündigungsschutz wie im Rest der Wirtschaft geschaffen werden. Die Zuzahlungen zum Lohneinkommen würden sicherstellen, dass jeder Arbeitnehmer von seinem Gesamteinkommen leben kann.

Wenn man stattdessen auf neue Mindestlöhne setzt, wird es neue Arbeitslosigkeit geben. Wie viele Stellen per saldo durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro verloren gehen, kann man recht verlässlich abschätzen, weil die Lohnverteilung aus der Zeit vor der Agenda 2010 bekannt ist. Im Jahr 2001 bezogen 4,2 Millionen Menschen Löhne unterhalb von 7,50 Euro. Empirisch zeigt sich, dass bei einer Lohnerhöhung um ein Prozent mindestens etwa 0,75 Prozent der vorhandenen Stellen vernichtet werden. Die Dresdener Ökonomen Marcel Thum und Joachim Ragnitz haben daraufhin errechnet, dass etwa 1,1 Millionen Menschen in Deutschland zusätzlich arbeitslos werden. Die Schätzungen sind Mindestwerte, weil sie die vielen Niedriglohnjobs, die durch die Agenda 2010 ermöglicht wurden, noch nicht berücksichtigen. Ein gewisser Teil dieser Jobs ginge zusätzlich verloren.

Hilft nicht die Stärkung der Kaufkraft, die mit Mindestlöhnen einhergeht, die Nachfrage zu erhöhen und auf diese Weise die Jobverluste zu vermeiden, fragt ein Leser. Leider nein, denn eine Lohnerhöhung kann die Kaufkraft einer Volkswirtschaft nur anders verteilen, aber nie erhöhen. Die Arbeiter, die beschäftigt bleiben, haben mehr Einkommen, doch die Unternehmer und die von Preiserhöhungen betroffenen Kunden haben weniger und werden weniger kaufen. Insbesondere fällt die Investitionsgüternachfrage der Unternehmen, weil immer mehr potenzielle Investitionsprojekte unter die Rentabilitätsschwelle rutschen. Dies dürfte der wichtigste Nachfrageeffekt auf die Konjunktur sein.

Einige Leser verweisen auf ausbeuterische Löhne. In der Tat können solche Löhne durch die Marktmacht von Firmen entstehen, die als Nachfragemonopolist auf ihrem jeweiligen lokalen Arbeitsmarkt auftreten. Aber wie realistisch ist der Fall des Nachfragemonopols im Niedriglohnsektor? Gerade die ungelernten Arbeitskräfte, die diesen Sektor dominieren, sind nicht an bestimmte Arbeitgeber gebunden, sondern können auch in kleineren Ortschaften unter mehreren Arbeitgebern wählen, und seien es Privatleute, bei denen haushaltsnahe Dienstleistungen erbracht werden können.

Lohnzuschüsse sind besser

Geringverdienern Aber machen uns nicht andere Länder vor, dass man mit Mindestlöhnen gut zurechtkommt, fragen einige Leser. Tatsächlich haben die meisten europäischen Länder und die USA Mindestlöhne. Doch es kommt immer auf die Höhe der Mindestlöhne an. Niedrige Mindestlöhne schaden nicht, hohe wohl. Die amerikanischen Mindestlöhne liegen bei vier Euro, und die britischen ungefähr beim für Deutschland diskutierten Wert von 7,50 Euro. Beide Länder haben aber ein höheres Sozialprodukt pro Kopf als Deutschland, beide belasten die Arbeitgeber von Geringverdienern mit viel geringeren Sozialabgaben. Vergleicht man die Lohnkosten pro Stunde und korrigiert die Rechnung bezüglich der unterschiedlichen Werte des Sozialprodukts pro Kopf, so liegt der amerikanische Mindestlohn bei 2,94 Euro pro Stunde und der englische bei 6,16 Euro. In der Tat beziehen nur 1,1 Prozent der amerikanischen und 1,9 Prozent der britischen Arbeitnehmer den Mindestlohn.

Ganz anders ist es in Frankreich. Der französische Mindestlohn liegt bei 8,44 Euro, was wegen der ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnisse auch nach einer Umrechnung auf deutsche Verhältnisse fast denselben Geldbetrag ergibt (8,27 Euro). Kein Wunder, dass in Frankreich 15,1 Prozent der Arbeitnehmer den Mindestlohn erhalten und das Land unter einer Massenarbeitslosigkeit leidet, die sich ab und an in Krawallen entlädt.

Viele Leser weisen darauf hin, dass Lohnzuschüsse die Unternehmen veranlassen, niedrigere Löhne zu zahlen. Dies ist zwar eine grundsätzlich korrekte Beschreibung des Geschehens, doch noch kein Gegenargument. Niemand, der für eine Ausweitung des Systems der Zuzahlungen über die Agenda 2010 hinaus plädiert, würde den Lohnsenkungseffekt bestreiten. Im Gegenteil, genau darum geht es doch! Sinn und Zweck der Zuzahlungen ist es, die impliziten Mindestlöhne des Sozialsystems zu senken, weil es nur so für Unternehmen rentabel wird, die benötigten Stellen im Bereich der gering Qualifizierten einzurichten, ohne dass Gesamteinkommen entstehen, von denen man nicht leben kann. Ohne Zuzahlungen könnte man die Stellen nur um den Preis der Verarmung breiter Bevölkerungskreise schaffen.

Viele befürchten, es werde eine Lohnspirale nach unten losgetreten, die keinen Halt findet. Diese Befürchtung ist unbegründet, denn die Senkung der impliziten Mindestlöhne verliert mit der Annäherung an die Vollbeschäftigung ihre Wirkung. Die tatsächlichen Löhne finden dort ihren festen Halt, wo die impliziten Mindestlöhne jene Löhne erreichen oder unterschreiten, die die Marktwirtschaft von allein gefunden hätte. Niedrigere Löhne sind nicht möglich, weil die Arbeitgeber beginnen würden, mit höheren Lohngeboten um die knapp gewordenen Arbeitnehmer zu konkurrieren. Deswegen kann man mit hinreichend hohen Zuzahlungen Vollbeschäftigung und eine Einkommenserhöhung zugleich erreichen.

Eine Reihe von Lesern äußert Bedenken, dass dieser Weg den Staat und damit den Steuerzahler zu viel Geld kostet. Diese Bedenken kann man zerstreuen, denn es geht ja um die Alternativen, entweder Menschen mit Arbeit zu bezuschussen oder ohne Arbeit komplett zu bezahlen. Letzteres kostete Deutschland 2007 etwa 60 Milliarden Euro, und 2005, als die Arbeitslosigkeit noch viel höher war, kostete es 75 Milliarden Euro. Dabei sind die hohen Verwaltungskosten der Bundesagentur für Arbeit noch gar nicht berücksichtigt. Die Lohnzuschüsse im Rahmen des Arbeitslosengeldes II kosteten demgegenüber 2007 nur etwa 8 bis 9 Milliarden Euro. Hieran zeigt sich, welch riesige Spielräume für eine Effizienzverbesserung des deutschen Sozialsystems sich ergeben, wenn man mit Lohnzuschüssen den Weg zu mehr Beschäftigung wählt.

Wirtschaftlicher Niedergang

Gesetzliche Mindestlöhne würden demgegenüber die Beschäftigung senken, was die Soziallasten des Staates erhöht und die Steuereinnahmen zusammen mit dem Volkseinkommen verringert. Den Nachteil hätten nicht in erster Linie die Unternehmen, die durch die Automatisierung der Produktion und Abwanderung reagieren können, sondern vor allem immobile Steuerzahler und diejenigen, die die höheren Preise für die lokalen Dienstleistungen zu zahlen hätten.

Viele Deutsche sind offenbar auch für den Mindestlohn, weil sie glauben, dass er nicht von ihnen selbst, sondern nur von den Unternehmen bezahlt werden muss. Davon kann indes keine Rede sein. Das Kapital wird immer dahin gehen, wo es die höchsten Renditen gibt, und schon Karl Marx hat erkannt, dass dies auf längere Sicht zum Ausgleich der Profitraten führt. Da Deutschland seine Grenzen nicht zumachen kann, wird das Kapital stets eine Rendite erwirtschaften, die mit anderen Ländern vergleichbar ist, und langfristig in der Lage sein, sämtliche Zusatzkosten in die Preise zu überwälzen. Mindesteinkommen zu sichern kostet die Allgemeinheit keinen Cent, aber Mindestlöhne müssen alle, die sie fordern, über Steuer- und Preiserhöhungen doppelt bezahlen.

Eigentlich sollten den Deutschen die Erfahrungen mit dem Mindestlohn reichen. Der auf der Idee des Lohnersatzes gegründete Sozialstaat, wie er von Willy Brandt und seinen Nachfolgern entwickelt wurde, hat gezeigt, was Mindestlöhne bewirken. Der Kahlschlag bei den Arbeitsplätzen, der durch die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates hervorgerufen wurde, hatte Deutschland seiner Dynamik beraubt und im internationalen Vergleich weit zurück geworfen. Westdeutschland fiel von 1970 bis 2005, als die Agenda 2010 Gesetz wurde, beim Sozialprodukt pro Kopf vom zweiten auf den neunten Platz der fünfzehn alten EU-Länder zurück. Verheerender hätte das Urteil der Geschichte über das deutsche Sozialexperiment kaum ausfallen können.

Aber nicht nur den wirtschaftlichen Niedergang, den die deutsche Mindestlohnstrategie hervorgerufen hat, muss man mit Sorge zur Kenntnis nehmen. Besonders schlimm war, dass durch das viele Geld, das der Sozialstaat unter der Bedingung der Nichtarbeit zur Verfügung gestellt hat, ein System geschaffen wurde, das ältere Arbeitnehmer aus dem Sozialverbund der Arbeitsgesellschaft ausgestoßen und vielen jüngeren von vornherein die Chance genommen hat, ihm beizutreten. Mindestlöhne unterminieren die soziale Kohärenz der Gesellschaft. Zuzahlungen zur Erreichung eines Mindesteinkommens stabilisieren die Gesellschaft. Nur sie machen es möglich, dass jeder, der will, arbeiten kann, und dann genug zum Leben hat.


Es handelt sich um die gekürzte Fassung eines Artikels, der unter www.sueddeutsche.de/wirtschaft erschienen ist.