Separate Dynamik

Die deutsche Konjunktur gerät immer stärker ins Schlingern. Doch die alten Krisenzeiten kommen nicht zurück – auch dank der Agenda 2010, sagt Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 18.08.2008, Nr. 34, S. 43

Deutschland hat in den Jahren 2006 und 2007 einen Boom erlebt, in dem manche Zeitungen bereits ein neues „Wirtschaftswunder“ sahen. Im Mittel dieser beiden Jahre wuchs die deutsche Wirtschaft um 2,7 Prozent, was etwa so viel war wie der Durchschnitt der alten EU-Länder, der bei 2,8 Prozent lag. Jetzt aber häufen sich die Hiobsbotschaften, und aus Amerika ziehen immer mehr dunkle Wolken heran. Die Immobilienpreise sind in den USA noch immer im Sturzflug, die Bankenkrise findet abermals neue Opfer, und die Arbeitslosigkeit steigt so schnell wie seit sieben Jahren nicht mehr. Der Boom der Weltwirtschaft, der nun vier Jahre lang anhielt, ist zu Ende. Erstaunlich ist nur, dass der Börsencrash in Amerika noch nicht stattgefunden hat, denn alles zeigt ansonsten nach unten. Die Kurs-Gewinn-Verhältnis der Standard & Poor’s- Werte lag zuletzt mit 24,23 immer noch weit über dem langfristigen Mittelwert von 16,31, den man seit 1881 beobachtet hat.

Auch Deutschland spürt zuehmend die Flaute. Der ifo-Geschäftsklima- Index ist mit Unterbrechungen seit Herbst letzten Jahres gefallen. Er befindet sich eindeutig in dem Bereich, der auf einen Abschwung der Wirtschaft hindeutet. Die tatsächliche Lage ist zwar noch recht gut, doch die Erwartungen sind so schlecht wie zuletzt im Winter 2002/2003, also mitten in der letzten Flaute. Darüber hinaus sind die Exporterwartungen der Industrie auf Talfahrt. Die jüngste internationale Konjunkturumfrage des ifo Instituts zeigt einen drastischen Rückgang des Wirtschaftsklimas im Euroraum. Die Erwartungen sind auf den niedrigsten Wert seit Beginn der Erhebung im Jahr 1989 gesunken. Die Auftragseingänge in der Industrie, der wichtigste in die Zukunft weisende Indikator der amtlichen Statistik, sind in den ersten beiden Quartalen 2008 so stark wie noch nie seit Anfang 1993 abgesackt. Alles in allem kann deshalb kaum noch ein Zweifel bestehen, dass der Wirtschaftsaufschwung, der im Sommer des Jahres 2005 begann, nun, drei Jahre später, wieder zu Ende geht.

Als besonders alarmierend erscheint, dass die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal gegenüber dem ersten Quartal – hochgerechnet auf das ganze Jahr – um 2,0 Prozent geschrumpft ist. Das ist zwar zum großen Teil eine technische Reaktion auf den starken Anstieg im ersten Quartal in Höhe von 5,2 Prozent, der man für sich genommen keine übermäßige Bedeutung zumessen sollte. Aber dennoch wird das ifo Institut deswegen seine Wachstumsprognose nach unten revidieren müssen – von 2,4 Prozent vermutlich auf etwa 2 Prozent. Dagegen dürfte die Prognose für 2009, die ohnehin nur bei 1,0 Prozent lag, im Lichte dieser Zahlen vorläufig bestehen bleiben.

Bei all den düsteren Aussichten ist derArbeitsmarkt immer noch ein Lichtblick. Die Beschäftigung hatte sich in diesem Aufschwung sichtlich vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt und eine separate Dynamik gezeigt, die viele vor kurzem für unmöglich hielten. Nach der ifo-Prognose werden in diesem Jahr im Durchschnitt nur noch 3,3 Millionen Arbeitslose erwartet. 2005 waren es noch 4,9 Millionen. Diese Prognose ist nach wie vor realistisch. Noch immer werden mehr offene Stellen gemeldet als im Höhepunkt des vergangenen Konjunkturzyklus (558 000 statt 554 000 im Dezember 2000). Mit saisonbereinigt 3,25 Millionen Arbeitslosen im Juli hat Deutschland den tiefsten Stand seit 15 Jahren erreicht.

Der Grund für den Erfolg liegt in der Agenda 2010, die den implizit im deutschen Sozialsystem steckenden Mindestlohn gesenkt hat. Einerseits wurden zwei Millionen Personen von der Arbeitslosenhilfe auf die Sozialhilfe heruntergestuft, die nun ALG II heißt. Andererseits erhalten mittlerweile an die 1,3 Millionen Erwerbstätige Lohnzuschüsse. Wer mehr staatliches Geld fürs Mitmachen und weniger fürs Wegbleiben erhält, der ist eher bereit, zu einem kleineren Lohn zu arbeiten, als es sonst der Fall gewesen wäre – und zu einem kleineren Lohn gibt es auch mehr Jobs. Das war das Rezept, und es hat funktioniert.

Westdeutschland (inklusive Westberlin) hat seit den Zeiten Willy Brandts von Boom zu Boom bislang immer gut 800 000 Arbeitslose mehr bekommen. Nur zwischen den beiden vergangenen Aufschwüngen war das plötzlich anders. Von 2001 bis 2008 ging die Arbeitslosigkeit um 300 000 zurück. Das bedeutet 1,1 Millionen Arbeitslose allein in Westdeutschland weniger, als es eine Fortsetzung bisheriger Entwicklungsmuster hätte erwarten lassen.

Da sich am Arbeitsmarkt nicht nur der Konjunkturzyklus zeigte, sondern eine echte Trendwende, eine Abkehr von einer Entwicklung, die seit 35 Jahren immer mehr Arbeitslosigkeit brachte, ist nicht davon auszugehen, dass nun die alten Zeiten wiederkehren werden. Solange Deutschland die Agenda 2010 nicht rückabwickelt, muss es auch nicht befürchten, dass sich die Horrorzahlen, die im Jahr 2005 aus Nürnberg kamen, wiederholen. Es ist im Gegenteil nicht auszuschließen, dass die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt trotz der konjunkturellen Wende für eine Weile weiter zurückgeht.

Der Wirtschaftspolitik kann man nur raten, jetzt Kurs zu halten. Kleinere Korrekturen am Steuertarif zum Ausgleich der schleichenden Progression sind zwar nötig, und zwar jedes Jahr. Für ein keynesianisches Ausgabenprogramm aber ist es noch zu früh – zumal Deutschland dafür keine Reserven in Form von Budgetüberschüssen aufgebaut hat. Am wichtigsten ist es, die Arbeitsmarktreformen Gerhard Schröders zu retten und gegen den Ungeist der Zeit und die reformmüde große Koalition zu verteidigen. Hier, nicht in der Konjunktur, liegen aktuell die wahren wirtschaftlichen Gefahren für Deutschland.