Käse statt Granit

Die Finanzkrise hat auch damit zu tun, dass sich Staaten wie Wettbewerber verhalten und ihre Banken durch gezieltes Regulierungsdumping protegieren, sagt Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 10.11.2008, Nr. 46, S. 62

Wir hatten uns vorgenommen, ein Finanzprodukt nur dann zu genehmigen, wenn wenigstens einer von uns versteht, wie es funktioniert.“ Das sagte mir vor kurzem ein hoher Beamter aus der Banque de France. „Aber,“ so fuhr er fort, „wir konnten diese Regel nicht durchhalten. Denn wir befürchteten, dass das Produkt dann in London vertrieben würde.“

So ähnlich haben in den vergangenen Jahren wohl viele Genehmigungsbehörden gedacht. Deshalb erodierte die Bankenregulierung oder kam nie in ausreichendem Maße zustande. Die Regulierung war einem Laschheitswettbewerb unterworfen, der sie wirkungslos werden ließ. Wer weniger streng als andere regulierte, der konnte seinen Banken einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz aus anderen Ländern verschaffen. Man wusste zwar, dass eine nachlässige Regulierung die Käufer der Finanzprodukte schädigen könnte, weil die Rückzahlungswahrscheinlichkeit damit verringert wurde. Aber die Käufer hatten keine Lobby und saßen zum großen Teil ohnehin im Ausland. Warum sollte man sich um sie kümmern? Allenfalls ein Vertrauensverlust, der sich in verringerten Verkaufspreisen der Finanzprodukte niederschlägt, hätte die Herkunftsländer der Banken veranlassen können, strenger zu regulieren. Aber welcher Kunde wusste schon, wie gut oder schlecht die Finanzmarktaufsicht eines Landes funktionierte? Die Rating- Agenturen, die Klarheit hätten schaffen können, haben ihre Aufgabe wegen geschäftlicher Verquickung mit den begutachteten Banken bekanntlich nicht erfüllt. Lehman Brothers hat noch im Jahr 2007 ein A+ und eine Woche vor dem Zusammenbruch ein A von Standard&Poors erhalten. Erst heute, im Crash, weiß man, wie schlecht die Qualität der angelsächsischen Banken und der von ihnen vertriebenen Finanzprodukte wirklich war.

Dahinter steckt System. Der Wettbewerb der Staaten kann grundsätzlich nicht funktionieren, weil Staaten Dinge tun, die der Markt nicht erledigen kann. Versucht man, den Markt auf der höheren Ebene des staatlichen Wettbewerbs wirken zu lassen, tauchen die gleichen Marktfehler wieder auf, die den Staat ursprünglich auf den Plan riefen. In meinem 2003 erschienenen Buch The New Systems Competition habe ich dies das Selektionsprinzip genannt. Das Selektionsprinzip erklärt, wieso der Steuerwettbewerb nicht funktionieren kann, wieso die Sozialstaaten im Systemwettbewerb erodieren, wieso die Regulierung der Produktqualität bei Lebensmitteln durch den Wettbewerb geschwächt wird, weshalb die Bankenregulierung im Laschheitswettbewerb verschwindet und warum es keinen sinnvollen Wettbewerb der Wettbewerbsordnungen geben kann. Es ist abwegig, den Wettbewerb der Staaten mit dem Wettbewerb der Firmen zu vergleichen, weil es für diesen Wettbewerb keinen Ordnungsrahmen gibt – und sich auch schwerlich einer finden lässt, der das Analogon des Preismechanismus ist, der den privaten Wettbewerb zu einem so überlegenen Steuerungssystem der menschlichen Aktivitäten gemacht hat.

Heute steht der Wettbewerb der Banken im Mittelpunkt des Interesses. Im Wettbewerb der Banken erodiert die Qualität der Bankprodukte, weil die Käufer nicht genau wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie später wieder an ihr Geld kommen werden. Die Banken nutzen das aus, indem sie die Produktqualität hinter dem Rücken des Käufers verschlechtern. Sie arbeiten mit zu wenig Eigenkapital, als dass sie die Rückzahlung der emittierten Bankschuldverschreibungen garantieren könnten, und sie verkaufen Collateralized Debt Obligations, Ansprüche gegen andere Ansprüche, bei denen sie die Käufer im Unklaren über die Bonität der Kunden am Anfang einer bisweilen langen Kreditkette lassen. Deshalb sollten die Staaten die Qualität der Finanzprodukte durch Beleihungsgrenzen, staatliche Zertifizierung und vor allem hohe Eigenkapitalanforderungen sichern. Doch wie das eingangs genannte Beispiel zeigt, kommen sie dieser Aufgabe nicht nach, weil sie sich selbst als Wettbewerber verhalten, die ihren eigenen Banken einen Vorteil gegenüber den Banken anderer Staaten verschaffen wollen. Im Endeffekt hat niemand etwas von dem kaputten System, das so entstanden ist.

In Europa hatten die Banken das Problem immerhin erkannt und sich mit dem Basel II – System gegenseitig zu Mindesteigenkapitalanforderungen verpflichtet. Das ist ein gewisser Schutz, der dem kontinentaleuropäischen Bankensystem heute zugute kommt. Das System ist aber noch weit vom Optimum entfernt. Es basiert auf den Wünschen und Vorschlägen der Banken selbst und verwendet betriebswirtschaftliche Risikomodelle, die die Systemrisiken nicht abbilden. Außerdem lässt es die Offshore-Aktivitäten in Form von ausländischen Zweckgesellschaften (Conduits) außen vor, ohne eine Eigenkapitalunterlegung der Geschäfte zu verlangen.

Das kann so nicht bleiben. Rahmenbedingungen für privatwirtschaftliche Aktivität zu setzen ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates, die man nicht der Lobby der regulierten Unternehmen überlassen kann. Wie die Geschichte zeigt, sind die Nationalstaaten aber mit dieser Aufgabe überfordert, weil sie im Wettbewerb untereinander stehen. Deshalb braucht die Welt ein einheitliches Regulierungssystem für Banken und Finanzinstitute, das vom IWF verwaltet und von den jeweiligen Notenbanken in ihren Hoheitsgebieten implementiert wird. Kanzlerin Angela Merkel biss auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm bei den Angelsachsen auf Granit, als sie Unterstützung für ein solches System suchte. Aus dem Granit ist inzwischen weicher Käse geworden.