Vergemeinschaftlichung und Konstitutionalisierung

Online-Presseartikel von Giuseppe Bertola, John Driffill, Harold James, Hans-Werner Sinn, Jan-Egbert Sturm und Akos Valentinyi, www.oekonomenstimme.org, 01. März 2013

Eine Schuldensozialisierung, das zeigen die historischen Erfahrungen der USA, würde den Euroraum in seiner Existenz gefährden. Die exzessive Kreditaufnahme, die in den USA unter Alexander Hamilton einsetzte, führte zur Herausbildung einer Kreditblase, die um das Jahr 1840 platzte und die Mehrheit der amerikanischen Staaten in den Konkurs trieb. Streit und Zwietracht waren die Folge der Schuldensozialisierung.

Oftmals wird behauptet, hauptsächlich von amerikanischen Ökonomen aber nicht ausschließlich von ihnen, dass die Schwierigkeiten des Euros ein Beweis dafür sind, dass eine Währungsunion ohne politische Union nicht existieren kann.[1] Thomas Sargent nutzte die Gelegenheit bei seiner Dankesrede für den Nobelpreis, um Europa zu empfehlen, dem US-Beispiel in den Jahren nach dem Unabhängigkeitskrieg zu folgen und die Schulden der einzelnen Staaten übernehmen. Für Hamilton war die Übernahme „der starke Zement unserer Union“. Paul de Grauwe erklärte kürzlich den Sachverhalt recht einfach: „Der Euro ist eine Währung ohne Land. Um ihn aufrechtzuerhalten, muss ein europäisches Land geschaffen werden.“

Die Diskussion der europäischen Integration bis heute wurde vor allem von Analysen darüber angetrieben, wie Präzedenzfälle jenseits des Atlantiks funktioniert haben. Auf höchster politischer Stufe betrifft eine solche Betrachtung die Verfassung, wobei das US-Beispiel die europäischen Staatsoberhäupter dazu ermutigt, die Möglichkeit eines Entwurfs für eine europäische Verfassung in Erwägung zu ziehen, was jedoch bis heute erfolglos verlief. Die US-Verfassung wurde erst im Jahr 1787 aufgesetzt und erst mit dem „Bill of Rights“ im Jahr 1791 fertiggestellt.

Europäische Bestrebungen dem konstitutionellen Weg der USA aus dem 18. Jahrhundert zu folgen wurden eingestellt, nachdem das vorgeschlagene verfassungsrechtliche Abkommen in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2005 per Volksentscheid abgelehnt wurde. Dennoch war das nicht das Ende der Diskussion. Als Folge der Finanzkrise wiesen einige – unter anderem Kanzlerin Merkel – darauf hin, dass auf lange Sicht ein neues konstitutionelles Abkommen der einzig akzeptierbare Weg sei, um die Forderungen und Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten zu definieren. Das ist ein überzeugendes Argument. Wenn der Währungsunion die Entwicklung fiskalföderalistischer Maßnahmen folgen soll, ist eine konstitutionelle Lösung, welche klar den Umfang und die Grenzen der Verpflichtungen der europäischen Mitgliedsstaaten offen legt, eine essentielle Bedingung.

Die Nachwirkungen der Finanzkrise der letzten Jahre haben Anlass zu einer anderen europäischen Sichtweise gegeben, wie ein funktionsfähiges fiskalföderales System in den Vereinigten Staaten entstand. Bekanntlich wurde dieses System erst 1790, vierzehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, eingeführt. Der Fiskalföderalismus hat sogar viel länger gebraucht, um seine magische Wirkung zur Entstehung eines Staates beizutragen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde „the United States is“ zur akzeptierten grammatikalischen Form (anstelle von „the United States are“).

Alexander Hamiltons letztendlich erfolgreicher Vorschlag im Jahr 1790 zur Übernahme der aufgrund des Unabhängigkeitskriegs angehäuften Staatsschulden war sicherlich ein maßgeblicher erster Schritt hin zur Schaffung einer echten Union – und es ging einher mit der Konstitutionalisierung des amerikanischen Experiments. Diese Übernahme schuf allerdings kein verantwortungsvolles System der Staatsfinanzen und in den darauffolgenden 50 Jahren kam es zu zahlreichen Pleiten auf Staatsebene und zu einer Debatte über erneute Schuldenübernahmen und/oder neue Wege zur Verhinderung von Staatsverschuldung. Die Verantwortungslosigkeit der einzelnen Staaten beschädigte zudem gravierend die Reputation der Bundesregierung und machte externe Finanzierung enorm teuer.

Hamiltons Argumentation

Hamilton argumentierte – im Gegensatz zu James Madison und Thomas Jefferson – dass die Kriegsschuld, die von den Staaten im Unabhängigkeitskrieg angehäuft worden war, vom Staatenbund übernommen werden sollte. Seine Argumentation hatte zwei Seiten, eine praktische und eine philosophische.

Das attraktivste Argument war zunächst, dass eine bundesstaatliche Übernahme kriegsbezogener Staatsschulden eine Maßnahme zur Gewährleistung größerer Sicherheit sei, und sich somit die Zinsen von 6 Prozent, zu denen die Staaten ihre Schulden finanzierten, auf 4 Prozent senken ließen.

Vom philosophischen Standpunkt aus bestand Hamilton zudem auf eine stärkere Begründung, guten Prinzipien zu folgen, als lediglich die Verfolgung der Zweckmäßigkeit. Es existierte, so behauptete er, „eine innige Verbindung zwischen gesellschaftlichen Werten und dem allgemeinen Glück“. Jene Werte bestünden aus der Anerkennung von Verpflichtungen.

Die Bedingung für den Erfolg des amerikanischen Falls war, dass die Union ihre eigenen Einnahmen erhoben hat, anfangs hauptsächlich durch neue Verbrauchssteuern und bundesstaatlich verwaltete Zollstellen. Die Logik der Notwendigkeit spezifischer Einnahmen findet auch Anwendung im modernen Europa, wo die Herkunft der Finanzierung für Bankenrettungen oder für einen Rekapitalisierungsfond deutlich aufgezeigt werden sollten. Diese Überlegung hat den Anstoß dafür gegeben, eine geringfüge Abgabe oder Steuer auf Finanztransaktionen zu erheben.

Längerfristig und erst nach der Gründung eines gemeinsamen Staates, mit einer gemeinsamen Armee, einem Parlament und einer Regierung, würde die Analogie zu Hamiltons System ein extensiver reformiertes fiskalisches System erfordern, welches auch eine gemeinsame Verwaltung von Zöllen oder der Mehrwertsteuer miteinschließen könnte (in beiden Fällen mit dem zusätzlichen Vorteil der Eliminierung eines großen Teils des grenzüberschreitenden Betrugs).

Würde eine Ausweitung der europäischen föderalen Haushaltskapazität eine massive Machtübertragung der Mitgliedsstaaten hin zu den EU-Behörden darstellen? Es ist wichtig zu betonen, dass die Übernahme der Staatsschulden im Jahr 1790 einherging mit dem Verständnis, dass föderale Befugnisse gering und begrenzt sein sollten. Im Federalist Paper 46 machte James Madison deutlich, dass zentrale Entscheidungsgewalt sorgfältig abgegrenzt werden sollte, und kam zu dem Schluss, dass „die Befugnisse, welche in der Hand der Bundesregierung sind, so gering wie möglich im Vergleich zu denen sein sollen, die den einzelnen Staaten vorbehalten sind, um das Ziel der Gemeinschaft zu erreichen“.

Dynamit statt Zement

Tatsächlich stellte sich die Fiskalunion vielmehr als Dynamit anstatt als Zement heraus, da der Tarifstreit in den 1830er Jahren zu einem konstitutionellen Kampf wurde, in dem die Südstaaten behaupteten, dass die Verfassung lediglich ein Vertrag zwischen Staaten sei und  dass die Südstaaten Landesgesetze, welche sie als verfassungswidrig ansahen, ignorieren könnten. Der Finanzmechanismus, der zur Ermöglichung einer gemeinschaftlichen Schuldentilgung geschaffen wurde, verursacht inhärent explosive Verteilungskonflikte.

Die Verteilungswirkungen zwischen Staaten mit einem gemeinsamen Haushalt wäre auch ein potentiell Uneinigkeit stiftender Mechanismus im heutigen Europa. Die beliebtesten Vorschläge, die derzeit in der Diskussion sind, sind eine generelle Finanztransaktions-Steuer, welche hauptsächlich zu Lasten der wichtigsten Finanzzentren gehen würde (und welche daher entschieden vom Vereinigten Königreich abgelehnt wird); oder eine europäische Lohnsteuer, welche jedoch Probleme entstehen ließe aufgrund unterschiedlicher Implementierungen und Erhebung in den verschiedenen europäischen Staaten.

Die US-Fiskalunion war zudem gefährlich, da es den Staaten die Wiederaufnahme von Verschuldung erlaubte. Ebenso wie die Tarifdebatte wurde auch dieses Problem in den 1830er Jahren  deutlich sichtbar. Als internationale Kapitalmärkte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden, haben amerikanische Staaten ihre neugeschaffene Reputation dazu genutzt, Kredite in großem Umfang aufzunehmen, und zerstörten infolgedessen ihren Gläubigerstatus recht schnell.

Die Gewohnheit aufgenommene Kredite nicht zu bedienen weitete sich in den Jahren 1841-42 aus, als Mississippi, Florida, Michigan, Pennsylvania, Maryland, Indiana, Illinois, Arkansas und Lousiana alle ihren Widerwillen oder ihre Unfähigkeit zurückzuzahlen bekanntgaben. Zu dieser Zeit wurde eine ganze Palette an Reaktionen in Erwägung gezogen, welche vom Ausschluss der Schuldner aus der Union bis hin zu der Wiederholung der hamiltonischen Schuldenübernahme reichten.

Zwangsläufig wurde wieder die hamiltonische Option der Schuldenübernahme in den Raum gestellt. 1843 schlug ein Kongresskomitee eine neue Schuldenübernahme vor, und begründete diese damit, dass die auftretenden Schulden hauptsächlich aus der Finanzierung von Infrastruktur stammten, welches „in berechnender Weise stattgefunden habe, um die Bonds der Union zu stärken, die Handelsmöglichkeiten zu vervielfachen und Verteidigungen von ausländischen Angriffen zu verbessern.“ Dieser Entwurf wurde jedoch abgelehnt, und zwar primär aus Moral Hazard Gründen: wenn Staaten von ihren Schulden befreit werden, werden sie wahrscheinlich nur schnellst möglich wieder Schulden aufnehmen.

Schuldengrenze als Lösung

Die endgültige Lösung lag in der Einführung von Gesetzen zur Schuldenbeschränkung bzw. zur Maßgabe ausgeglichener Haushalte. Ende des 19. Jahrhunderts setzten viele Staaten eine sehr geringe Höchstgrenze für zulässige Staatsschulden, und andere Staaten begrenzten die Verschuldung auf einen (kleinen) Anteil der gesamten Steuereinnahmen. Nur die nördlichen Staaten (New Hampshire, Vermont, Massachusetts, Connecticut und Delaware), die das Schuldenproblem nie richtig erlebt haben, erlaubten ihren Legislativen unbegrenzte Schulden zu verabschieden. Im frühen 21. Jahrhundert begrenzte eine solche Gesetzgebung die Staatsverschuldung in allen bis auf einen der 50 Staaten.

Die Wahl des fiskalischen Mechanismus für einen gemeinsamen Schuldendienst erweckt möglicherweise tief spaltende Probleme über die Verteilungseffekte der Steuer- oder Zolleinnahmen auf die einzelnen Staaten. Es erfordert ein wohl konstitutionalisiertes System aus Beschränkungen des fiskalischen Handlungsrahmens, sowohl auf Bundesebene als auch Ebene der einzelnen Staaten. Im speziellen bedeutet dies, dass eine Festlegung, keine Staatsschulden zu übernehmen, eine wichtige Bedingung für die stabile finanzielle und politische Entwicklung der Union ist.

1  Dieser Beitrag entspringt Kapitel 4 des EEAG-Berichts 2013, der am 25. Februar 2013 in Brüssel vorgestellt wurde.

Nachzulesen auf www.oekonomenstimme.org