Europas Instabilitätsmechanismus

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 22.12.2010

MÜNCHEN – Bis 2010 sollte Europa „die wettbewerbsstärkste und dynamischste Wissensgesellschaft der Welt“ werden. So lautete jedenfalls 2000 die offizielle Ankündigung der Europäischen Kommission anlässlich der so genannten Lissabon-Agenda. Nun ist ein Jahrzehnt nach diesem vollmundigen Versprechen vergangen, und es ist offiziell: Europa ist nicht der Champion der Welt, sondern eher ihr Nachzügler. Die aktuellen EU-Mitglieder wuchsen in den letzten zehn Jahren um 14 Prozent, dagegen die USA um 18 Prozent, Lateinamerika um 39 Prozent, Afrika um 63 Prozent, Nahost um 60 Prozent, Russland um 59 Prozent, Singapur, Südkorea, Indonesien und Taiwan um 52 Prozent, Indien um 104 Prozent und China um 171 Prozent.

Die Europäer wollten ihr Ziel unter anderem durch Ausbau des Umweltschutzes und mehr soziale Kohäsion erzielen – durchaus wünschenswerte Ziele, aber sicherlich keine geeigneten Wachstumsstrategien. Die Lissabon-Agenda hat sich als Witz entpuppt.

Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1995 hatte ein ähnliches Schicksal. Die EU-Länder einigten sich darauf, ihre Staatsdefizite auf drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu beschränken, um eine Schuldendisziplin unter dem Euro sicherzustellen, so dass kein Land die neue Währung missbrauchen könnte, um seine Nachbarn zu Rettungspaketen zu zwingen. Tatsächlich haben die EU-Länder die Drei-Prozent-Hürde 97 Mal überschritten.

In 29 dieser Fälle waren die Überschreitungen vertragskonform, weil sich die betreffenden Länder in einer Rezession befanden. In den übrigen 68 Fällen jedoch war die Verschuldung über drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes ein klarer Vertragsbruch, und der Rat der Finanzminister (Ecofin) hätte Sanktionen auferlegen müssen. Aber nicht ein Land wurde je bestraft.

Die von den EU-Mitgliedern selbst auferlegten Schuldenbeschränkungen wurden danach nie wieder ernst genommen, weil die Richter gleichzeitig die Sünder waren. Ein Thema, das eines Kafka oder eines Molière würdig wäre.

Tatsächlich sind in diesem Jahr zwei Länder, Griechenland und Irland, von den anderen EU-Mitgliedern gerettet worden, auch wenn Artikel 125 des konsolidierten EU-Vertrags ausdrücklich festlegt, dass kein Mitgliedsstaat die Schulden eines anderen bezahlen soll; eine Bedingung von Deutschland, ohne die es seine geliebte Deutsche Mark nicht aufgegeben hätte. Die Doktrin der eisernen Disziplin wurde 2010 in einem Coup fallengelassen, als es hieß, die Welt würde untergehen, wenn Deutschland seine Geldbörse nicht öffnete.

Es ist bezeichnend für die Laissez faire-Haltung im Umgang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, dass Griechenland dem Euro durch schlichten Betrug beitreten konnte, indem es einfach behauptete, seine Verschuldungsrate läge unter der 3-Prozent-Hürde, obwohl sie tatsächlich weitaus höher lag. Angesichts des betrügerischen Verhaltens von Griechenland erklärte das europäische Statistikamt Eurostat, sein griechisches Pendant und die oberste griechische Aufsichtsbehörde hätten die Daten „absichtlich gefälscht“. Aber egal, Griechenland war bereits drin und bereit und fähig, die anderen EU-Mitgliedsstaaten in Geiselhaft zu nehmen.

Deutschland hat jetzt seine Geldbörse geöffnet und ist zum Hauptretter Griechenlands geworden. Und damit nicht genug, bei ihrem vorweihnachtlichen Gipfel haben die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen, den EU-Vertrag um den Europäischen Finanzstabilitätsmechanismus zu erweitern, der jetzt Europäischer Stabilitätsmechanismus heißt (ESM).

Zurück zu Hause feierte Angela Merkel dies als einen Sieg über den Rest Europas, obwohl sie doch monatelang darauf bestanden hatte, das Instrument müsse wieder abgeschafft werden. Tatsächlich war es größtenteils eine notwendige Konzession an das deutsche Verfassungsgericht, das argumentierte, die Rettungspakete hätten keine vernünftige rechtliche Basis. Die Teilnahme von Gläubigerbanken, die für Merkel lange eine conditio sine qua non gewesen waren, wurde zu einer Option herabgestuft.

Auch die Europäische Zentralbank hat an Glaubwürdigkeit verloren. Vor einem Jahr hat sie noch gelobt, Staatsanleihen mit BBB-Einstufung nicht mehr für ihre Geldgeschäfte akzeptieren zu wollen. Aber auch der Vorsatz wurde im Mai über den Haufen geworfen, als sie sogar begann, griechische Ramschanleihen zu kaufen. In der Zwischenzeit hat die EZB angekündigt, dass sie ihr Eigenkapital verdoppeln will.

Die Manöver der EU stabilisieren Europa vielleicht kurzfristig und helfen, den aktuellen Spekulationsangriffen auf die Staatsanleihen einiger Euroländer standzuhalten, aber sie riskieren langfristig eine Destabilisierung. Während die finanzielle Ansteckungsgefahr heute auf die Transaktionen der Banken untereinander beschränkt ist, haben die EU-Maßnahmen die Herde der Ansteckung vergrößert und schließen nun auch Staatshaushalte mit ein.

Der erste Schritt in Richtung einer potenziellen Kette von Staatsbankrotten in Europa ist getan. Das Risiko ist heute vielleicht noch beschränkt, aber es wird größer werden, wenn der neue ESM eine Vollkaskoversicherung gegen Insolvenz wird, ohne Lastenausgleich durch Gläubiger.

Wenn Politiker versuchen, die eisernen Gesetze der Wirtschaft auszuhebeln, verlieren sie. Das ist dieses Mal nicht anders. Aber Politiker sind immun gegen Ratschläge aus der Wissenschaft. Nur zu oft ziehen sie schlechte Witze vor - bis zuletzt über sie gelacht wird.
 
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