Das Euro-System steckt in einer Sackgasse

Eine Erwiderung auf die Kritiker: Die Hoffnung, die Kapitalmärkte mit immer mehr Geld zu beruhigen, ist ein Trugschluss. Von Friedrich Sell und Hans-Werner Sinn
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Presseartikel von Hans-Werner Sinn und Friedrich Sell, Süddeutsche Zeitung, 08.08.2012, Jg. 68, Nr. 182, S. 20

Wer den temporären Austritt von peripheren Euro-Ländern aus der Währungsunion zum GAU erklärt, wie Gerhard Illing und seine Assistenten das tun, macht Deutschland erpressbar. Mit der Begründung, dass die Euro-Zone in ihrer jetzigen Form erhalten werden muss, sind schon die Rettungspakete und die Maßnahmen der EZB gegen deutsche Widerstände durchgeboxt worden. Gerade am vorigen Donnerstag hat der EZB-Rat gegen den erbitterten Widerstand von Bundesbankpräsident Jens Weidmann beschlossen, die Staatsanleihenkäufe demnächst wieder aufzunehmen. Es sind mittlerweile für eineinhalb Billionen Euro Rettungskredite vergeben worden, und das deutsche Staatsrisiko aus diesen Krediten reicht schon an 800 Milliarden Euro heran, wenn diese Summe nicht schon überschritten wurde. Soll das so weitergehen, bis bei uns nichts mehr zu holen ist?

EURO-DEBATTE

Schon mit der Einführung des Euro wollte man Europas Schuldenproblem lösen. Die unbegrenzte Feuerkraft der gemeinsamen Zentralbank musste her, um die Zinsen der überschuldeten Südländer auf das deutsche Niveau zu drücken. Das hat ein paar Jahre funktioniert. Die Zinslasten der Südländer gingen dramatisch zurück. Im Falle Italiens und Griechenlands von mehr als zehn Prozent auf weniger als fünf Prozent des BIP innerhalb eines Jahrzehnts. Italien hat durch den Euro mehr Zinsen gespart als sein gesamtes Mehrwertsteueraufkommen. Aber haben die Länder mit Sparsamkeit reagiert? Davon kann nicht die Rede sein. Die Schuldenquote Italiens ist heute genauso hoch wie beim Gipfel in Madrid im Jahr 1995, als der Euro verkündet wurde, und die griechische Schuldenquote ist um zwei Drittel angewachsen.

Der ganze Vorteil wurde verfrühstückt. Dann ging die Zinsdrückerei weiter mit riesigen EZB-Krediten, die ab Herbst 2007 zur Verfügung gestellt wurden, sowie seit Mai 2010 einem Rettungspaket nach dem anderen. Die deutschen Steuerzahler und Rentner wurden allmählich immer mehr in die Haftung genommen, ohne dass man sie jemals gefragt hat, was sie von der ganzen Sache halten.

Immer gab es Stimmen wie jene von Gerhard Illing, die darauf hingewiesen haben, die Entwicklung sei alternativlos, denn wenn man aufhöre, mehr Geld auf den Tisch zu legen, um die Zinsen für die Schuldenländer zu senken, breche alles zusammen. Wenn man aber hinreichend viel Geld auf den Tisch lege, würden sich die Kapitalmärkte beruhigen, und alles wäre wieder gut.

Wenngleich dieses Argument anfangs Überzeugungskraft hatte, stumpft es mit dem Fortgang der Krise und der Leerung des Portemonnaies der Retter aber doch immer mehr ab. Alles Geld, das im Schaufenster lag, wurde genommen, und das meiste wird auch nie mehr zurückkommen, weil die Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit durch die Euro-Party mit den niedrigen Zinsen verloren haben. Alle sind sie heute viel zu teuer. Sie müssten abwerten, und können es nicht. Das Euro-System steckt in einer Sackgasse. Nur wenn man immer wieder neues Geld gibt, ist das Leben in dieser Sackgasse halbwegs erträglich, aber keiner kommt auf diese Weise aus ihr heraus. Ganz im Gegenteil, die Kräfte, die nach einem Ausweg suchen, werden mit dem vielen Geld erstickt.

Es gibt nur eine Gruppe, der das Ganze wirklich hilft: Das sind die internationalen Finanzinvestoren, darunter natürlich auch viele deutsche, die ihr Geld in Südeuropa angelegt haben und nun nach einem Dummen suchen, der ihnen die toxischen Papiere abkauft, die von den Krisenländern emittiert wurden. Je länger sie es schaffen, die Rettung in die Länge zu ziehen, und Europa daran hindern, sich schmerzlichen Wahrheiten zu stellen und die Euro-Zone neu zu adjustieren, desto größer ist der Anteil ihres Anlageschrotts, den sie den Steuerzahlern der im Moment noch soliden Länder aufbürden können. Das Unvermeidliche können die europäischen Regierungen dann immer noch realisieren, aber man selbst hat sein Vermögen gerade noch rechtzeitig vor dem Gewitter in die sichere Scheune bringen können.

Die Kräfte, die nach einem Ausweg suchen, werden mit dem vielen Geld erstickt

Hinter der Euro-Retterei, die gar keine wirkliche Rettung ist, steht ein gewaltiger Vermögenspoker, bei dem Deutschland den Kürzeren ziehen wird, wenn nicht endlich eine Bremse eingezogen wird. Man versteht das nicht, wenn man die Problematik nur aus dem Aspekt der Geldtheorie sieht. Ein bisschen politökonomisches Denken gehört auch schon dazu.

Soweit unsere Position. Gerne nehmen wir auch im Einzelnen die Ausführungen unserer Kritiker unter die Lupe.

Die Kritiker verkennen den Kern unseres Vorschlages, wenn sie auf das Chaos eines Auseinanderbrechens der Währungsunion hinweisen. Der Vorschlag soll ja gerade sicherstellen, dass die Währungsunion nicht chaotisch auseinanderbricht. Genau deshalb bemühen wir uns, ein geordnetes Verfahren für einen temporären Austritt zu beschreiben. Im Übrigen sind die Unterschiede zu einem Festkurssystem keineswegs so groß, wie die Autoren behaupten. In der Euro-Zone gibt es zwar eine gemeinsame Geldpolitik, zugleich sind die Target-Salden aber ein eindeutiger Hinweis auf unechte Devisenbilanzsalden. Solche Salden treten sonst nur in Wechselkursunionen oder anderen Fixkurssystemen auf.

Die historischen Vergleiche der Autoren (Jugoslawien, Österreich/Ungarn) hinken, denn damals gab es weder ein EWS I zur Hinführung auf die Währungsunion noch einen „Trainingsraum“ wie das EWS II, den wir ja für austretende Länder empfehlen. Außerdem fehlten damals die von uns proklamierten Finanzhilfen für den Übergang in die andere Währung. Im Übrigen: Warum lassen die Autoren die monetäre Desintegration zwischen Tschechien und der Slowakei in den 1990er Jahren außer Acht, die völlig unspektakulär verlief? Die Fachleute, die das reibungslos organisiert haben, sind alle in der EU vorhanden.

Der einheitliche Währungsraum muss eben gerade nicht zerfallen, wenn einzelne Länder vorübergehend austreten. Vielmehr kann dadurch der verbliebene Kern stabilisiert werden. Das gehört zum Einmaleins der Clubtheorie. Alles was die Autoren über griechische Ersparnisse und Kapitalflucht schreiben, ist längst eingetreten, es würde durch unseren Vorschlag, wenn die Politik ihn glaubwürdig ankündigt, eher abgemildert.

Wir wehren uns gegen die Unterstellung, wir wollten keine weitere Integration Europas. Wir wollen sie, und wir wollen auch am Euro festhalten. Unser Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa mit einer zentralen Regierung und einem Gewaltmonopol im Zentrum, und natürlich einer gemeinsamen Währung. Wir sehen nur nicht, dass der Euro mit seiner jetzigen Struktur uns diesem Ziel näherbringt. Die Staaten der USA sind auch keine Haftungsgemeinschaft eingegangen, um ihr jetziges Ausmaß an Staatlichkeit zu erreichen.

Die Europäische Währungsunion kann nur auf Dauer angelegt werden, wenn sie stabilisiert wird. Die Zweifel an ihrem Fortbestand nehmen gerade dann zu, wenn sie aus Mitgliedern besteht, deren fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit Transfers übertüncht werden muss und die sich teilweise nicht einmal durch Regeltreue auszeichnen. Nur wenn die Währungsunion tragfähig ist und aus Mitgliedern besteht, die einen festen Wechselkurs und eine gemeinsame Geldpolitik vertragen können, ist sie keine Währungsunion auf Abruf. Die von den Autoren befürchtete Kettenreaktion ist reine Spekulation.

Von der Rückkehr zur Deutschen Mark haben wir an keiner Stelle geschrieben: Warum dieser Popanz? Warum sollten wir ein erweitertes EWS II vorschlagen, wenn es uns um die Wiedereinführung der D-Mark ginge?

Die Geldpolitik der EZB läuft immer mehr auf eine Monetisierung der Staatsschulden hinaus, deren Verbot Deutschland wegen seiner negativen Erfahrungen mit der Hyperinflation in den Jahren bis 1923 zur Bedingung für die Aufgabe der D-Mark gemacht hatte. Sie stapelt Risiken für Europas Bürger, ohne demokratisch legitimiert zu sein. Und sie vergrößert den Knall.

Die Autoren Friedrich L. Sell und Hans-Werner Sinn lehren beide in München. Sinn als Volkswirtschaftsprofessor an der LMU, Sell an der Universität der Bundeswehr in München. Beide sind auch an Forschungsinstituten tätig: Sinn ist Präsident des ifo Instituts, Sell war bis 2011 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des IWH Halle.