Mediterrane Mehrheiten

DENKFABRIK | Die Drohung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, ist ein politisches und ökonomisches Alarmsignal. Deutschland sollte eine Initiative zur Neuordnung der EU ergreifen, die den Subsidiaritätsgedanken stärkt - und den Briten so den Verbleib in der EU ermöglicht.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, 04.02.2013, Nr. 6, S. 38

Viele Politiker in Brüssel und Paris, aber auch einige in Berlin haben mit Spott auf die Ankündigung David Camerons reagiert, sein Volk über die EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. Aber so einfach wird man das Thema nicht mehr los. Großbritannien ist noch immer das weltweit einflussreichste Land Europas. Camerons Entscheidung wird und muss Europa verändern.

Der britische Premierminister hat seinen Schritt nicht aus freien Stücken getan. Es war die EU selbst, die ihn mit ihrer Entscheidung für die Tobin-Steuer (nun "Finanztransaktionssteuer" genannt) provozierte. Man kann von dieser Steuer halten, was man will. Sie ist eine läppische Kleinigkeit von unklarem Nutzen - aber ein Nadelstich im Fleisch der Briten. Ihretwegen den EU-Austritt Großbritanniens zu riskieren war eine grobe Fahrlässigkeit. Jene, die diese Steuer durchgedrückt haben, wohlwissend, dass sie damit Großbritannien reizen, haben das europäische Einigungswerk gefährdet. Nicht von ungefähr hielt Cameron seine Austrittsrede einen Tag nach dem entsprechenden Mehrheitsbeschluss der EU-Länder.

ZWEI ANLÄUFE

Es hatte zwei Anläufe gebraucht, bis Großbritannien 1973 endlich Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft wurde. Der erste Versuch war 1963 an Frankreichs Veto gescheitert. Deutschland hatte sich seinerzeit für den Beitritt stark gemacht, weil es darin ein Mittel sah, die merkantilistischen Absichten der Franzosen, die der deutschen Industrie nur hätten schaden können, abzublocken. Außerdem war klar, dass die EU ohne Großbritannien niemals die politische Position in der Welt würde einnehmen können, die man anstrebte. Es hat seitdem zur deutschen Staatsräson gehört, Großbritannien fest in das europäische Einigungswerk einzubinden. Soll das nun nicht mehr gelten?

Die Häme des französischen Außenministers Fabius, der verkündete, man werde die Briten nicht aufhalten, wenn sie gehen wollen, mag man verstehen. Unverständlich ist aber, dass sich der deutsche Außenminister mit seinem Vorwurf der Rosinenpickerei in das Konzert der Kritiker einreiht. Da hat Angela Merkel mit ihrem Verhandlungsangebot an die Briten schon deutlich klüger und umsichtiger agiert.

Cameron hat ja im Kern recht. Es ist etwas faul in der EU und der Euro-Zone. Der im Maastrichter Vertrag vereinbarte Gedanke der Subsidiarität wird in der praktischen Politik der EU immer wieder missachtet. Die EU regelt viel zu viele Dinge, für die sie nicht zuständig ist, weil damit keine grenzüberschreitenden Externalitäten verbunden sind. Die Abschaffung der Glühbirnen, die Regeln zur Krümmung der Gurken und neuerdings die Bestrebungen zur Privatisierung der Wasserwirtschaft, die schon aus technischen Gründen keine Konkurrenzwirtschaft sein kann, sind nur einige Beispiele einer langen Reihe ökonomisch unsinnigen Machtmissbrauchs. Und die Europäische Zentralbank (EZB) wird entgegen der eindeutigen Regeln des Maastrichter Vertrages für die Staatsfinanzierung mit der Notenpresse und für fiskalische Kreditoperationen gewaltigen Ausmaßes missbraucht, die nach Meinung des ehemaligen EZB-Chefvolkswirts Otmar Issing mit Geldpolitik nichts mehr zu tun haben.

Es ist ein Fehler, die politische Einigung Europas über die weitere Vertiefung der Euro-Zone anstreben zu wollen. Wichtige Länder wie Großbritannien, Schweden und Polen gehören nicht zur Euro-Zone und werden wegen der Schuldensozialisierung im Euro-Raum auch auf absehbare Zeit nicht dazugehören. Sie sind aber genauso Teil von Europa wie Zypern, Malta oder Griechenland.

Gemessen an den Stimmrechten im EZB-Rat, liegt der geografische Schwerpunkt der Euro-Zone im mediterranen Gebiet.

Fast kommt einem die Euro-Zone wie eine erweiterte lateinische Münzunion vor, die sich im 19. Jahrhundert von Frankreich bis nach Griechenland erstreckte, das damals drei Staatskonkurse hinlegte. Deutschland muss sich den mediterranen Mehrheiten unterordnen. Der ohnmächtige Protest der Bundesbank-Präsidenten Axel Weber und Jens Weidmann und des ehemaligen EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark zeigt dies in aller Deutlichkeit.

DEUTSCHE RANDLAGE

Wer die europäische Einigung über eine vertiefte Zusammenarbeit speziell in der Euro-Zone erreichen möchte, bringt Deutschland in eine Randlage - und spaltet Europa. Aus diesem Grunde ist es an der Zeit, die deutsche Europapolitik grundlegend zu überdenken. Die EU hat bei ihrer Wanderung das Gipfelziel aus dem Blick verloren. Man weiß gar nicht mehr, wo die Reise hingehe, moniert Cameron. Sollte man unter diesen Vorzeichen den Schritt wirklich beschleunigen? Ist es nicht besser innezuhalten, nachzudenken und bis zur letzten Weggabel zurückzugehen, um einen anderen Weg zu probieren?

Deutschland sollte Cameron ernst nehmen und zusammen mit Großbritannien, Frankreich und den anderen EU-Ländern eine Initiative zur Neugestaltung Europas entwickeln, die Europa mehr Frieden, Freiheit, Einheit und Wohlstand bringt, als es bei dem derzeitigen Kurs der Fall sein kann.

"David Cameron hat im Kern recht. Es ist etwas faul in der EU und in der Euro-Zone"