Ein bedenklicher Freibrief für die Europäische Zentralbank

Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, 19.06.2015, S. 39.

Jetzt ist es also noch schlimmer gekommen, als man es nach dem Gutachten des europäischen Generalanwalts Pedro Cruz Villalón vom Januar erwarten konnte: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat unter Vorsitz des griechischen Richters Vassilios Skouris sämtliche Bedenken des deutschen Bundesverfassungsgerichts bezüglich des OMT-Programms zum Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) beiseite gewischt. Der EuGH hat der EZB den Freibrief ausgestellt, fast alles zu tun, was sie will - wenn sie es nur geldpolitisch begründet.

Das deutsche Gericht hatte in seiner vorläufigen Stellungnahme im Februar 2014 festgestellt, dass die EZB mit dem OMT-Programm "vorbehaltlich der Auslegung" durch den EuGH ihre Kompetenzen überschritten habe, weil sie Wirtschaftspolitik betreibe. Es sprach gar von "Machtusurpation".

Kern des 2012 angekündigten OMT-Programms war die Ankündigung, die Staatspapiere von Krisenländern notfalls unbegrenzt zu kaufen, wenn diese Länder unter Auflagen Hilfen vom Rettungsschirm ESM erhalten. Dies wurde von den Märkten als kostenloser Versicherungsschutz für Staatspapiere interpretiert und führte zu einer dramatischen und rapiden Senkung der Risikoaufschläge, die die Krisenländer ihren Gläubigern bieten mussten. Der Versicherungsschutz rettete vermutlich manche von ihnen vor dem Konkurs.

Er wirkte jedoch kontraproduktiv auf die Haushaltskonsolidierung. In funktionierenden föderalen Systemen werden Gliedstaaten, deren Schulden zu schnell wachsen, von den Kapitalmärkten durch steigende Zinsen bestraft, die das erhöhte Konkursrisiko widerspiegeln. Da diese Bremse durch OMT blockiert wurde, erhöhten alle Krisenländer ihre Schuldenquoten. Und dies, obwohl der von Angela Merkel stolz verkündete Fiskalpakt eine jährliche Senkung der Schuldenquoten um ein Zwanzigstel des Abstands zu der zulässigen Quote von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung forderte.

Das Bundesverfassungsgericht hatte schon in seiner vorläufigen Stellungnahme zum ESM, die eine Woche vor dem OMT-Beschluss im September 2012 verkündet wurde, erklärt, dass EZB-Maßnahmen dem Maastrichter Vertrag widersprechen, wenn sie dazu dienen, die Finanzierungskosten eines Staates vom Kapitalmarkt unabhängig zu machen. Es hatte den EuGH gebeten mitzuteilen, wie man das OMT-Programm begrenzen könne, sodass es wieder mit dem Maastrichter Vertrag kompatibel sei.

Diese Bitte hat der EuGH nicht erfüllt. Vielmehr erklärte er das Programm ohne Wenn und Aber für rechtmäßig. Die Verringerung der Zinsspreads sei eine legitime Aufgabe der Geldpolitik, selbst wenn es dazu nötig sei, selektiv Staatspapiere einzelner Länder zu kaufen. Wenn der Rettungsfonds ESM solche Papiere kaufe, sei das Wirtschaftspolitik. Wenn die EZB das Gleiche tue, sei es halt Geldpolitik. Es komme auf die Motive für die Käufe an.

Die Richter verwiesen mehrfach auf die Einheitlichkeit der Geldpolitik und die Notwendigkeit, die Transmission der Geldpolitik in alle Euro-Länder sicherzustellen. Die Stabilisierung des Euro-Systems sei keine Aufgabe der EZB (weil das Wirtschaftspolitik sei), doch wenn eine solche Stabilisierung als Nebeneffekt der Geldpolitik auftrete, sei dagegen nichts einzuwenden.

Aus ökonomischer Sicht ist diese Haltung nicht überzeugend. Zinsspreads und Konkurse sind ein wesentliches Kennzeichen funktionierender Kapitalmärkte. Dass diese Zinsen kurz vor dem Konkurs exorbitante Höhen erreichen, die den Konkurs wiederum beschleunigen, liegt in der Natur der Sache. Darauf sollte die Politik mit einer Konkursordnung für Staaten reagieren - statt wie im Fall Griechenland mit einer jahrelangen Konkursverschleppung.

Die EZB nutzt geldpolitische Vokabeln als Schutzbehauptungen, um die Rettung überschuldeter Staaten und ihrer Gläubiger zulasten der Steuerzahler unbeteiligter Länder zu betreiben, die Verluste bei den Gewinnausschüttungen der nationalen Notenbanken kompensieren müssen. Es ist bedauerlich, dass der EuGH dieser oberflächlichen und ökonomisch nicht haltbaren Semantik folgt.

Es ist nun abzuwarten, wie das Verfassungsgericht bei seinem anstehenden OMT-Urteil auf die Haltung des EuGH reagiert. Auf dieses Urteil kommt es an. Nur das deutsche Gericht kann verbindlich feststellen, ob die vom EuGH vertretene Interpretation des Maastrichter Vertrages mit dem unveräußerlichen Budgetrecht des Bundestages kompatibel ist.

Hans-Werner Sinn Hans-Werner Sinn, 67, ist seit 1999 Präsident des ifo Instituts und seit 1984 Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.