Doppelt gebremst

WISSENSCHAFT: Kritik an der Unternehmensteuerreform

Waigels Plan, der die Investitionen ankurbeln soll, wird den Konjunkturabschwung noch verstärken.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
WirtschaftsWoche, Nr. 40, 25.09.1992, S. 53

Nun soll die Reform der Unternehmensteuern also doch kommen: Finanzminister Theo Waigel will die Steuersätze aufkommensneutral senken. Im Klartext: Die Steuersätze sollen zwar fallen, doch im Ausgleich sollen mehr Unternehmenseinkünfte als bisher dem Zugriff des Fiskus untenvorfen werden (Fachterminus: Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage). Per saldo bleiben die Steuereinnahmen des Staates insgesamt unverändert.

Vor allem will Waigel bestimmte Abschreibungsvergünstigungen streichen. Nach seinem Plan sparen die Unternehmen weniger Steuern als bisher, wenn sie anstelle von Staatsanleihen Maschinen kaufen oder neue Fabriken bauen.

Neu ist dieser Trick nicht. Die geplante Reform ist eine verzögerte Kopie der US amerikanischen Fiskalpolitik von 1986, die unter dem Motto Steuersenkung plus Basiserweiterung" (tax cut cum base broadening) durchgeführt wurde.

Leider ist die amerikanische Reform der Nachahmung nicht wert. Sie ist mit schuld an der heutigen Malaise der amerikanischen Wirtschaft. Die unglückliche Verknüpfung von Steuersatzsenkung und Ausweitung der Bemessungsgrundlage hat die Erfolge der vorausgegangenen US-Wirtschaftspolitik wieder zunichte gemacht. Sie ruinierte das kleine Wirtschaftswunder, das Ronald Reagan 1981 mit einem ausgekügelten Abschreibungssystem (dem sogenannten Accelerated-Cost-Recovery-System) geschaffen hatte.

Abschreibungsvergünstigungen sind, weil sie nur das neue und nicht das alte Kapital begünstigen - gemessen an den Steuerausfällen des Staates -, ein besonders starker Investitionsstimulus. Sowohl die USA als auch Deutschland hatten und haben ihren Unternehmen beschleunigte Abschreibungen erlaubt.

Wer beispielsweise ein Mietshaus erwirbt, darf zunächst (in den ersten Jahren) höhere Abschreibungen von seinem zu versteuernden Einkommen absetzen als tatsächlich anfallen. Die Abschreibung ist also größer als die tatsächliche Wertminderung des Hauses. Auch für neuerworbene Maschinen können Unternehmer in den ersten Jahren Beträge absetzen, die über die tatsächliche Wertminderung der Anlagen hinausgehen.

Unter dem Einfiuß solcher Abschreibungsvergünstigungen rufen Steuern eine Flucht nach vorne hervor: Der Unternehmer zahlt um so weniger Steuern, je mehr Eigenkapital er von Finanzanlagen, heispielsweise Bundesanleihen, die er voll versteuern muß, in steuerbegünstigtes Sachkapital (Fabriken, Maschinen, Mietshäuser) umschichtet. Die Stärke des Anreizes hängt dabei entscheidend vom Steuertarif ab. Je höher der Grenzsteuersatz, den der Unternehmer zahlen muß, desto größer ist der Anreiz für die Flucht nach vorne. Senkt Theo Waigel also die Steuersätze, schaffen die Investoren weniger steuerbegünstigte Maschinen, Fabriken und Mietshäuser an.

Dieses fatale Resultat würde gemildert, wenn die Steuersatzänderung allein aufträte, die Unternehmenssteuerreform also nicht aufkommensneutral wäre. Dann würde der Staat weniger Abgaben erheben, und die Unternehmer hätten per saldo höhere Nettoeinkommen, die sie in Finanz- oder Sachanlagen investieren können.

Waigel plant aber eine aufkommensneutrale Reform. Er möchte die bestehenden Abschreibungsvergünstigungen teilweise wieder zurücknehmen, so daß die Nettoeinkommen der Unternehmen insgesamt unverändert bleiben. Auf diese Weise kommt es zu einem doppelten Bremseffekt: Die Steuersatzsenkung dämpft die Freude am Kauf von Maschinen oder Anlagen, und die partielle Rücknahme der Abschreibungsvergünstigungen vermindert die Investitionsneigung zusätzlich.

Die Formel „Steuersenkung plus Basiserweiterung" war in den USA ein durchschlagender Mißerfolg: Sie dämpfte die Investitionsbereitschaft, wegen der verminderten Kreditnachfrage fielen die Zinsen, und weil der Zinsverfall eine Kapitalflucht auslöste,  erlitt der Dollar einen Schwächeanfall nach dem anderen. Wenn Waigel wirklich die amerikanischen Fehler kopiert, gibt er der ohnehin schon angeschlagenen deutschen Wirtschaft den Rest. Warum lernt die Politik eigentlich nichts dazu?