Migration: Gut für den Arbeitsmarkt, schlecht für den Staat

Deutschland streitet über das Für und Wider von Migration. Die Debatte ist hitzig und leider wenig rational. Dabei ist das Ergebnis eindeutig: Der Arbeitsmarkt profitiert, der Haushalt leidet.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
www.wiwo.de, 10.02.2015

Der Jahreswechsel war durch eine intensive Migrationsdebatte gekennzeichnet. Holger Bonin wurde von den Medien als Apostel derjenigen gefeiert, die in der Immigration eine Entlastung des Staates sehen, weil er für das Jahr 2012 pro Ausländer ein Plus im Staatsbudget von 3300 Euro ausmachte.

Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass Bonin nur die Kosten der direkt zuzurechnenden Sozialtransfers und eine Schätzung für die Aufwendungen im Bildungsbereich berücksichtigt hatte. Er selbst betonte, dass bei einer Berücksichtigung aller Kosten über den Lebenszyklus gerechnet pro Ausländer ein Minus von 79.000 Euro für den Staat herauskam.

Und der Verfasser wurde an den rechten Rand gerückt, indem ihm die Behauptung angedichtet wurde, Migranten seien ein Nettoverlust für Deutschland insgesamt - obwohl er doch in seinem FAZ-Artikel ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass die Negativ-Bilanz sich allein auf staatliche Aktivitäten bezieht, während Migranten positive Arbeitsmarkteffekte mit sich bringen.

Dabei hatte das ifo Institut nur die bei Bonin noch fehlende Jahresrechnung unter Berücksichtigung aller Staatsausgaben vervollständigt. Das Ergebnis war ein jährliches Minus von 1800 Euro pro Ausländer. Der Betrag ergab sich, indem von Bonins Überschuss von 3300 Euro die noch nicht berücksichtigten übrigen Staatsausgaben (abzüglich der Einnahmen aus Gebühren für staatliche Leistungen) in Höhe von 5100 Euro pro in Deutschland ansässigem Bürger abgezogen wurden. Unter der Annahme, dass Ausländer wie Inländer von solchen Kosten profitieren und sie durch ihre Anwesenheit auch verursachen.

Die Irrlichter zipperten und zapperten zu Silvester durch Blätterwald und Internetmedien wie wild gewordene Raketen. Von einem rationalen, emotionsfreien Diskurs, der auf Argumente statt auf Meinungen abstellte, war das Ganze meilenweit entfernt. Die Aussagen von Bonin und mir wurden von manchen Medien durch den Filter der politischen Korrektheit gepresst, bis sie falsch wurden.

Was übrig blieb, waren sinnentleerte, aber die Emotionen anstachelnde Karikaturen der ökonomischen Argumente, die wir gebraucht hatten. Ich kenne das zur Genüge, aber diesmal war es wieder einmal besonders heftig.

Es sind zwei Themen offen geblieben, die ich im Interesse der Klarheit und Wahrheit doch noch einmal aufgreifen möchte.

Das erste betrifft die Frage, ob man nicht statt der pekuniären Durchschnittskosten die Grenzkosten abziehen müsste, die bei der Versorgung der Ausländer entstehen. Einige Autoren, vor allem auch bei "Spiegel online", haben so argumentiert. Sie scheinen der Auffassung zu sein, die relevanten Grenzkosten seien die pekuniären Grenzkosten, die kurzfristig beim Staat anfallen, bevor die Zahl der öffentlichen Einrichtungen an die Größe der Wohnbevölkerung angepasst wird.

Das ist nicht korrekt. Die kurzfristigen Grenzkosten von Klubgütern - so nennt man die Güter, die der Staat anbietet -, werden vor allem durch die sogenannten Ballungsexternalitäten definiert. Sie entstehen aus der Verschlechterung der Nutzungsqualität durch gegenseitige Behinderung der Nutzer. Diese Grenzkosten haben aber mit den pekuniären Grenzkosten, über die die Autoren Hypothesen anstellen, wenig zu tun.

Stellen wir uns vor, es gebe heute überhaupt keine pekuniären Kosten für die Infrastruktur mehr, weil sie schon in grauer Vorzeit erstellt und mit Steuermitteln statt Krediten finanziert wurden. Auch dann gäbe es ökonomische Grenzkosten der Immigration in Form der Ballungsexternalitäten, und die müssen berücksichtigt werden.

Um den Sachverhalt klar zu machen, denke man zum Beispiel an eine bereits vorhandene Mietwohnung mit einer Wohngemeinschaft, in die ein zusätzlicher Mieter aufgenommen wird. Die pekuniären Grenzkosten des zusätzlichen Mieters sind minimal. Sie bestehen aus den Kosten für zusätzlichen Strom, mehr Wasser und vielleicht noch eine weitere Mülltonne.

Nach dem "Spiegel"-Argument dürfte man bei der Berechnung der fiskalischen Effekte der Migration nur diese laufenden Nebenkosten in Ansatz bringen. Man dürfte dem neuen Mieter keine Miete im eigentlichen Sinne abverlangen, weil die Grenzkosten minimal sind.

Nach der Logik der Volkswirtschaftslehre ist das jedoch falsch. Denn der neue Mieter braucht ein Zimmer und belegt das Bad oder die Küche, wenn auch andere diese Einrichtungen nutzen wollen. Die vorhandenen Mieter werden dies als Nachteil empfinden und deshalb eine Kompensation in Form einer Mietbeteiligung verlangen. Diese Kompensation ist das, was die Ökonomen Grenzballungskosten nennen.

Haben die öffentlichen Einrichtungen die optimale Betriebsgröße, so sind diese ökonomischen Grenzkosten den periodisierten pekuniären Durchschnittskosten der öffentlichen Einrichtungen gleich. Denn statt die vorhandenen Einrichtungen bei einer Veränderung der Bevölkerung mehr oder weniger zu nutzen, ist es langfristig billiger, die Zahl der öffentlichen Einrichtungen anzupassen.

Das ist eines der Fundamentaltheoreme der finanzwissenschaftlichen Allokationstheorie und die tiefere Begründung dafür, dass man mit pekuniären Durchschnittskosten rechnen kann, wenn man die ökonomischen Grenzkosten meint.

Leider sind diese pekuniären Kosten aber heute großenteils nicht mehr bekannt und finden vielfach keinen Nachhall mehr in den öffentlichen Statistiken. Insofern unterschätzen alle Rechnungen, die in letzter Zeit vorgelegt wurden, auch die ifo-Rechnung, die wahren staatlichen Grenzkosten, die von Ausländern bei der Nutzung staatlicher Einrichtungen und Sozialsysteme verursacht werden.

Mein zweiter Punkt betrifft die Behauptung, alle Bürger, auch die Deutschen, hätten dem Staat im Jahr 2012 bei der Rechnung Bonins - die nur die Kosten der Sozialtransfers und für die Bildung berücksichtigte -, per Saldo netto ein Einnahmeplus beziehungsweise bei der angeblichen Vollkostenrechnung à la ifo ein Einnahmeminus beschert.

Es wurde dazu getitelt: "Auch Deutsche kosten mehr, als sie dem Staat bringen". Diese Behauptung kann nicht stimmen, wenn man sie auf die pekuniären Kosten allein bezieht, weil das Staatsbudget im Jahr 2012 nahezu exakt ausgeglichen war.

Dem Minus der Ausländer, das nach der ifo-Schätzung 1800 Euro pro Person und Jahr betrug, muss also ein entsprechendes Plus der Deutschen gegenüber gestanden haben. Und wenn es wirklich stimmen würde, wie manche aus der Bonin-Studie schließen, dass die Ausländer den Staat im Jahr 2012 per Saldo entlastet haben, dann müssten die Deutschen ihn logischerweise belastet haben, was ein reichlich absurdes Ergebnis wäre.

Der Sachverhalt stellt sich in Wahrheit so dar: Nach der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung lagen sowohl die Einnahmen des Staates pro Einwohner als auch die Ausgaben im Jahr 2012 bei 14.800 Euro. Bei den 6,6 Millionen Ausländern, die es Ende dieses Jahres in Deutschland gab, einer Gesamtbevölkerung von 80,5 Millionen und auf der Basis der Kosten von 1800 Euro pro Ausländer, entspricht das pro deutschem Staatsbürger (einschließlich der eingebürgerten Immigranten) einem Jahres-Überschuss von 200 Euro.

Statt eines solchen Überschusses käme ein Defizit in Höhe von 1100 Euro heraus, würde man den von Bonin ausgewiesenen Überschuss der Deutschen in Höhe von 4000 Euro um die noch nicht berücksichtigten Staatskosten in Höhe von 5100 Euro bereinigen.

Aber das liegt daran, dass in seinem Ansatz für das Jahr 2012 nicht nur staatliche Kosten fehlen, sondern auch staatliche Einnahmen, die Deutschen zuzurechnen sind. Hierzu gehören sonstige Einnahmen des Staates aus Beteiligungen an Unternehmen, Erbschaftsteuern und pauschale Produktionsabgaben von Unternehmen.

Zusammengenommen beliefen sich diese Einnahmen im Jahr 2012 immerhin auf 1300 Euro pro Deutschem. Subtrahiert man von diesem Betrag das genannte Defizit von 1100 Euro, ergibt sich der erwähnte Überschuss von 200 Euro pro Deutschem im Jahr 2012.

Man könnte nun argumentieren, die sonstigen Einnahmen des Staates müsse man den Ausländern anteilig genauso zurechnen wie den Deutschen. Insofern würden sie die fiskalischen Grenzkosten reduzieren. Aber wenn es darum geht, die fiskalischen Nettokosten des Zuzugs von Ausländern für die Deutschen zu berechnen, wäre das sicherlich nicht korrekt.

Es wäre so, als würde man im obigen Beispiel der Wohngemeinschaft unterstellen, dass das Arbeitseinkommen, das die bereits anwesenden Mitglieder der Wohngemeinschaft für die Miete aufwenden, dem neuen Mitglied der Gemeinschaft teilweise zugerechnet und übertragen wird.

Die sonstigen Einnahmen des deutschen Staates aus Unternehmensbeteiligungen aus Erbschaftsteuern und Produktionsabgaben der Unternehmen gehören den Deutschen und werden den Ausländern mit der Einbürgerung anteilig übereignet, aber nicht vorher.