Europa verdrängt die Krise

Auch wenn einige südeuropäische Länder wieder wachsen: Die Euro-Krise ist noch längst nicht beendet. Bislang wurden lediglich die Risiken umverteilt.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Zeit Online, 20.01.2014

Die Euro-Krise beschäftigt uns nun schon seit fast sieben Jahren. Sie begann im August 2007 mit dem temporären Zusammenbruch des Interbankenmarktes und erreichte ihren Höhepunkt im September 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging. Derzeit wird oft argumentiert, das Schlimmste sei nun vorbei. Irland verlässt den Rettungsschirm, die Leistungsbilanzdefizite sind verschwunden, Banken und Versicherungen kaufen wieder Staatsanleihen der südlichen Länder, und selbst Griechenland will wieder wachsen. Können wir die Euro-Krise damit abhaken und wieder normalen Zeiten entgegensehen?

Schön wäre es. Jubelmeldungen zur angeblichen Überwindung der Krise hat es auch in den vergangenen drei Jahren jeweils zur Jahreswende gegeben. Aber die Realität war dann doch immer ernüchternd. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte dazu reuevoll erklärt, er habe die Prognosen geschönt, um so, gemäß seiner Finanzierungsregeln, die Fortsetzung der Rettungsaktionen zu ermöglichen.

Halten wir uns deshalb lieber an die Fakten statt an Prognosen. Danach sind die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer zwar verschwunden, aber nicht weil die Exporte irgendeine besondere Dynamik zeigen, sondern weil die Importe eingebrochen sind. Die Exporte sind nach der Weltrezession von 2009 wie überall auf der Welt wieder gestiegen, doch mit Ausnahme von Irland haben sie ihr Vorkrisen-Trendniveau noch nicht wieder erreicht. Demgegenüber sind die Importe überall abgestürzt, weil die Wirtschaft in den Krisenländern kollabierte. Das ist der Grund für die verbesserten Daten. Arbeitslose kaufen nun mal keine ausländischen Autos und Flachbildfernseher. Sollten die Krisenländer wieder in Fahrt kommen, so würden auch die Leistungsbilanzdefizite wieder steigen.

Leichtes Wachstum im Süden

Auch ein Blick auf die Industrieproduktion verheißt nichts Gutes. Wieder ist Irland die löbliche Ausnahme, aber in den anderen Krisenstaaten ist man vom Vorkrisenniveau meilenweit entfernt. Italien hatte nach dem Absturz 2009 einen kurzen Aufschwung bis 2010, doch seit 2011 geht es wieder bergab. Die Industrie liegt am Boden. In Griechenland und Spanien liegt die Industrieproduktion heute sogar noch deutlich niedriger als auf dem tiefsten Punkt der Weltrezession. Allerdings gab es zuletzt in Spanien Zeichen für eine Bodenbildung.

Positives kann man aus den letzten Wachstumsraten ableiten. Im dritten Quartal 2013 stieg in Spanien das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum Vorquartal erstmals leicht, nachdem es zuvor neun Quartale in Folge geschrumpft war. In Italien gab es nach acht Quartalen Rückgang zwar keinen Anstieg, aber zumindest eine Stagnation, in Irland und in Portugal wuchs die Wirtschaftsleistung sogar zum zweiten Mal in Folge, während Griechenland weiter schrumpft.

Aber das sind Momentaufnahmen, die im Wesentlichen durch die lockere Kreditpolitik zu erklären sind. Die Abkehr vom Sparkurs führt momentan zu einer besseren Auslastung der Kapazitäten, doch verlangsamt sie zugleich den schmerzlichen Prozess der Lohn- und Preissenkung, ohne den sich die Wettbewerbsfähigkeit der Südländer nicht wieder herstellen lässt. Das Problem dieser Staaten ist ja, dass sie durch die inflationäre Kreditblase, die der Euro bei ihnen erzeugte, viel zu teuer geworden sind und nun eine "reale Abwertung" durch Preis- und Lohnsenkungen brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Die lässt sich jedoch nur durch einen Verzicht auf künstliche Nachfragestimuli erreichen.

Bezüglich der preislichen Wettbewerbsfähigkeit ist leider noch nicht viel passiert. Italien hat seine Preise gegenüber seinen Wettbewerbern noch nicht gesenkt, und die Preise Griechenlands und Spaniens fielen in der Krise um weniger als fünf Prozent. Sie müssten aber um etwa 30 Prozent sinken, damit es diesen Ländern gelingt, wieder wettbewerbsfähig zu werden und ihre Auslandsschulden zu tragen.

Musterschüler Irland

Allein Irland hat seine Hausaufgaben gemacht und seine Preise seit 2006, dem Zeitpunkt des Platzens der irischen Blase, gegenüber den Wettbewerbern in der Euro-Zone um 15 Prozent reduziert. Irland kam zwei Jahre vor den anderen Ländern in die Krise und musste sich durch Lohn- und Preissenkungen selbst helfen. Die anderen halfen sich, indem sie gemeinsam im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) die Bedingungen zur Bedienung der lokalen Druckerpressen so änderten, dass sie sich das Geld, das sie auf den Märkten nicht bekamen, drucken konnten. Das ersparte ihnen die irische Qual, verlängerte aber ihr Siechtum.

Große Sorgen bereitet auch der Arbeitsmarkt. In Italien liegt die Arbeitslosenquote mit 13 Prozent, in Zypern mit 17 Prozent, in Griechenland mit 28 Prozent und in Spanien mit 27 Prozent auf dem jeweils höchsten Wert seit Ausbruch der Krise. Das Hauptproblem ist die Jugendarbeitslosigkeit. In Italien, Zypern und Spanien stieg sie zuletzt auf Rekordwerte (42 Prozent, 40 Prozent beziehungsweise 58 Prozent). Von einer Beruhigung der Situation am aktuellen Rand kann also nicht die Rede sein. Eine Verbesserung verzeichnen allein Portugal und Irland, wenngleich auch dort die Quoten noch sehr hoch sind.

Frankreich gilt nicht als Krisenland und bleibt deshalb bei den meisten Betrachtungen außen vor. In Wahrheit wird uns die französische Krise als nächstes beschäftigen. Frankreichs Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Jahren rasch gestiegen und stagniert nun bei knapp elf Prozent. Unter den jugendlichen Erwerbspersonen ist jeder Vierte arbeitslos. In Deutschland ist es nur jeder Dreizehnte.

Besonders bedenklich ist, dass Frankreichs Industrie schrumpft. Waren im Jahr 2000 noch 14 Prozent der Erwerbstätigen im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt und erwirtschafteten 15 Prozent der gesamten Wertschöpfung, so sind beide Quoten mittlerweile auf rund zehn Prozent gefallen. Die Wertschöpfung ist in Relation zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes nicht einmal halb so groß wie in Deutschland. Dieser Trend ist verheerend.

Frankreich hat sich damit beholfen, die freigesetzten Arbeitskräfte im Staatssektor aufzusaugen, der anteilig mehr als doppelt so viele Leute beschäftigt wie in Deutschland und mit 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusammen mit Finnland nach Dänemark der zweitgrößte der OECD-Länder ist. Deutschlands Quote, die in der Spitze im Jahr 1996 schon einmal 49 Prozent betragen hatte, liegt demgegenüber nur bei knapp 45 Prozent. Aber beim Staat werden nur Güter und Leistungen von sekundärem Wert produziert, jedenfalls keine, die das Land gegen Devisen im Ausland verkaufen könnte.

Die Risiken werden umverteilt

Diese ganze Misere steht in einem deutlichen Widerspruch zur Ruhe an den Kapitalmärkten, die die EZB erzeugte, indem sie Garantieversprechen zum Schutz der Käufer südlicher Staatspapiere abgab und in riesigem Umfang Kredite zum Ersatz der wegbrechenden privaten Kredite an die Krisenländer gab.

Seit die EZB die Steuerzahler im Rahmen ihres OMT-Programms gezwungen hat, für die Staatspapiere der Südländer zu haften, sind die Kapitalanleger beruhigt und bereit, den Staaten Südeuropas wieder mehr Geld zu leihen. Das ist halt das politische Geschäft im Finanzkapitalismus: Die Umverteilung der Risiken von den Cleveren zu den Gutgläubigen beruhigt die Situation und verschiebt die Krise von den Titelseiten der Zeitungen irgendwo ins Innere, wo sie vorläufig keiner mehr zur Kenntnis nimmt.

Aber wer weiß. Nicht nur in der Ehe wird das Leben schwieriger, wenn die Flitterwochen vorbei sind, und im verflixten siebten Jahr haben sich schon so manche Illusionen der Wirklichkeit beugen müssen.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des ifo Instituts und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.