"Was haben wir an Reformen?"

Konjunktur: Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, über Zinsen, Deflation und die Berliner Wirtschaftspolitik

Autor/en
Dieter W. Heumann
VDI Nachrichten, Nr. 50, 13. Dezember 2002, S. 4.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins deutlich gesenkt. Ein erster Schritt zur konjunkturellen Erholung? Was sollte die Bundesregierung tun? Fragen an den Präsidenten des Münchener Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn.

"Für's erste ist es das, was die EZB tun kann", so der Kommentar von Professor Dr. Hans-Werner Sinn- Präsident des Ifo-Instituts, zur Senkung des Leitzins auf 2,75 %. Nach Ansicht des Ökonomen war eine Zinssenkung überfällig. Der Ifo-Präsident erklärt das lange Zögern der EZB damit, dass "zu stark auf andere Länder geschaut wird, vor allem auf die kleinen Länder".

Bei den Abstimmungen im Zentralbankrat der Notenbank zur Geldpolitik herrscht das Prinzip: Ein Land, eine Stimme. Dem entsprechend sind die kleinen Länder - gemessen an ihrem wirtschaftlichen Gewicht - im Zentralbankrat zu stark repräsentiert.

Nach Sinn müssen die Entscheidungsstrukturen innerhalb der EZB "grundlegend revidiert" werden. Er plädiert für die doppelte einfache Mehrheit. Das heißt: Die Mehrheit der Länder und die Mehrheit der dahinter stehenden Bevölkerung sollen bei einer Zinsentscheidung zählen.

In den vergangenen Monaten haben zahlreiche Ökonomen die EZB auch kritisiert, weil sie die Gefahr einer Deflation nicht genügend berücksichtige. Die Deflation, also auf breiter Front sinkende Preise, scheint auf den ersten Blick ein durchaus wünschenswerter Zustand. Doch was so konsumentenfreundlich klingt, hat Schattenseiten: Machen Verbraucher erst einmal die Erfahrung, dass die Preise vom Auto bis zum Eigenheim sinken, stellen sie ihre Einkäufe zurück. In ein paar Wochen, so das Kalkül, gibt's das Gewünschte gewiss noch günstiger. Die Folge: Unternehmen bleiben auf ihren Produkten sitzen, können ihre Maschinen nicht auslasten, Kredite nicht bedienen, Personal nicht bezahlen. So kann eine Abwärtsspirale in Gang kommen, wie das Beispiel Japan lehrt.

Dort betrieb die Zentralbank noch eine stramme Hochzinspolitik, als sich das Land - nach dem Platzen der riesigen Immobilienblase - bereits in einer Deflation befand: Die Investoren investierten nicht mehr und die Verbraucher hielten sich zurück, in der Hoffnung, die begehrten Güter und Dienstleistungen später wesentlich billiger zu bekommen. Die Folge: eine nicht enden wollende Wachstumsschwäche.

Läuft die EZB Gefahr, den Fehler der japanischen Notenbank zu wiederholen? Sinn ist sich ziemlich sicher, dass die Euro-Zentralbanker diesen Fehler nicht begehen werden. "Die EZB wird verhindern, dass sich der europäische Inflationsdurchschnitt in Richtung Null bewegt".

Das verfolgte Inflationsziel liegt bei 2 % - aber eben im europäischen Durchschnitt. Dabei kann die Notenbank auf einzelne Länder - wie Deutschland - keine Rücksicht nehmen, betont Sinn. Derzeit hat die Bundesrepublik eine Inflationsrate von knapp über 1%. Sinn wäre es bei 2 % bis 3 % wohler. Warum? Der Ökonom stellt folgende Rechnung auf: Deutschland liegt - auch wegen der schwachen Konjunktur - bei der Inflation strukturell um etwa 1 % unter dem europäischen Inflationsdurchschnitt. Sollte die EZB ihr Inflationsziel von 2 % tatsächlich erreichen - wovon einige Auguren für 2003 ausgehen - dann haben wir in Deutschland nur noch 1 % Inflation. Damit, so Sinn, könnten wir hierzulande bereits den Deflationsbereich tangieren, zumal 1 % im Bereich der Fehlermarge liege.

Der Ökonom versteht die Angst vor der Deflation, "denn Japan hat gezeigt, welch riesiges Fiasko sie für die Volkswirtschaft bedeuten würde. Wir müssen aufpassen", mahnt der Ifo-Chef, auch wenn er erwartet, dass Deutschland an der Deflation vorbeischrammt.

Nach Meinung von Sinn hat die EZB ihren Teil geleistet, um der Wirtschaft Mut zu machen. Nun sei die Wirtschaftspolitik gefragt: "Sozialstaat und Arbeitsmarkt müssen an Haupt und Gliedern reformiert werden."

Doch der Ökonom scheint skeptisch, was die ins Auge gefassten Reformen betrifft. "Was haben wir denn schon an Reformen?", so seine rhetorische Frage. "Das Renten- und Krankenversicherungssystem wird erst einmal von einer Kommission beraten, die in einem Jahr ihren Bericht vorlegt. Dieses Reformvorhaben ist damit auf die lange Bank geschoben.". Und was von den Hartz-Vorschlägen übrig geblieben ist, wird nach Sinns Ansicht wenig am Arbeitsmarkt bewegen.

Will die Bundesregierung die Wirtschaft in Gang bringen, kann sie dies nur noch über Reformen erreichen. Einer antizyklischen Finanzpolitik steht der Stabilitätspakt entgegen. Sinns eindringliche Mahnung: Die gegenwärtige Krise nutzen, um die Angebotsbedingungen zu verbessern. "In einer ausgeglichenen Wirtschaftslage oder gar im Boom ist die Wirtschaft nicht bereit, schmerzhafte Reformen zu akzeptieren." Also sollte jetzt die Konjunktur hintangestellt und getan werden, was das strukturelle Wachstum in diesem Lande stärkt: "Eine Senkung der staatlichen Ausgaben statt Erhöhung der Steuern".

Würde die Konjunktur nicht weiter abgewürgt, wenn der Staat seine Ausgaben kürzt? Schließlich ist der Ifo-Geschäftsklimaindex jetzt zum sechsten Mal in Folge gefallen. Sinn bleibt verhalten optimistisch. Die Ifo-Umfrage zeige auch positive Entwicklungen. So habe sich die Lagebeurteilung der Unternehmen recht deutlich verbessert. Sinn: "Nur die Erwartungen sind noch pessimistischer geworden. Aber nicht immer folgt die Realität den Erwartungen. Vielleicht ist es jetzt einmal umgekehrt."