Made in Germany? Eine Sinn-Krise

Autor/en
Christoph Hardt
Presseecho, Handelsblatt, 23.08.2005, Nr. 165, S. 8.

Hans-Werner Sinn dreht den Zündschlüssel. Es dauert eine Schrecksekunde, dann schnurrt der Diesel mit seinen drei Litern Hubraum und den sechs Zylindern wie ein kleines Perserkätzchen auf dem heimischen Ledersofa, kaum zu hören und trotzdem angenehm präsent. Zum ersten Mal sitzt der Chef des Ifo-Instituts am Münchener Flughafen hinter dem Steuer eines VW-Touareg, eines dieser Luxus-Geländewagen. Auf einer Fahrt durch Bayern testet Sinn seine These von der „Basarökonomie".

Spät ist VW in dieses Segment gestartet, jetzt ist der Touareg der meistverkaufte Jeep in Deutschland. Sinn, der Professor mit dem Seemannsbart und den meerblauen Augen, ist gut gelaunt wie auf einer Jungfernfahrt. „Ich liebe die großen, etwas klobigen Autos“, sagt der Volkswirt aus Bielefeld und legt den ersten Gang ein.

Sinn und der Touareg, das ist eine besondere Geschichte. Denn der oberste Ifo-Forscher nennt Deutschland seit einiger Zeit "Basarökonomie". Und hat damit viel Wirbel erzeugt. Weil die Löhne hier zu Lande viel zu starr und vor allem zu hoch seien, finde ein zu hoher und wachsender Teil der industriellen Wertschöpfung deutscher Unternehmen dort statt, wo die Löhne billig und die Qualität der Arbeit trotzdem hoch ist: in den neuen Mitgliedsländern der EU, in Ländern wie Ungarn, Tschechien und der Slowakei, sagt Sinn. Deutschland verkaufe diese Produkte dann nur ins Ausland, werde so zum Basar.

Der Professor hat dafür immer den Porsche Cayenne als Beispiel genannt, der bei VW in Bratislava fast vollständig zusammengebaut und in Leipzig nur noch Motor und Antriebsstrang verpasst bekommt. Der Touareg ist die Steigerungsform des Gelände-Porsches, er wird komplett in Bratislava gebaut.

Mit dem Porsche und dem VW aus der Slowakei, sagt Sinn, lässt sich auch erklären, warum trotz der großen Exporterfolge deutscher Unternehmen die Arbeitslosigkeit hier zu Lande weiter zunimmt: Der Anteil deutscher Produktion an den Produkten, die "Made in Germany" zu sein scheinen, nimmt kontinuierlich ab. Und vor allem: Der Prozess verläuft schneller als in anderen Ländern. Während die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren Hunderttausende Jobs in den neuen EU-Ländern geschaffen hat, schrumpft hier die Beschäftigung, erreicht die Arbeitslosigkeit neue Höchstmarken. In der Slowakei hat allein der Volkswagenkonzern weit über eine Milliarde Euro investiert und gut 8 200 Jobs geschaffen – von den Zulieferern gar nicht zu reden.

"Die meisten Autos sind heute ja übermotorisiert", sagt der Professor, als er auf die A9 vom Münchener Flughafen Richtung Innenstadt abbiegt. Für den Touareg will das der Herr Professor aber nicht gelten lassen. Für die zweieinhalb Tonnen Volkswagen sei der Drei-Liter-Diesel "angemessen".

Der Motor stammt aus der Audi-Fabrik im ungarischen Györ. Dort stehen 5 000 Menschen für die VW-Tochter in Lohn und Brot, sämtliche Audi-Motoren werden hier gebaut, aber auch die schweren Diesel für VW. Audi in Ungarn hat im vorletzten Jahr weit über eine Million Motoren gefertigt, und es werden stetig mehr. "Der hier zieht sehr ordentlich", sagt Sinn und schaltet in den 6. Gang. Der Tacho zeigt 170. "Jetzt kommt mir das Auto aber etwas zittrig vor", meckert Sinn das erste Mal und gibt noch mehr Gas.

Sinns Basar-These, die im Oktober als Buch erscheint, ist von vielen Kollegen scharf kritisiert worden. So meint der Berliner Ökonom Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats, das Wort Basarökonomie solle zum ökonomischen Unwort des Jahres 2005 erhoben werden. Deutschland beschäftige im internationalen Vergleich immer noch viele Menschen in der Industrie, der Beschäftigungsrückgang hier zu Lande sei vor allem durch die Schwäche der Binnenkonjunktur verursacht.

Trotz dieser Kritik: Im Wahlkampf feiert die Basar-Diskussion ihre Auferstehung. Ob Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, SPD, oder Wolfgang Schäuble, CDU – je nach Blickwinkel wird Sinns Theorie verteufelt oder gerne als Kronzeuge für die schwächelnde deutsche Volkswirtschaft angeführt.

Hans-Werner Sinn lächelt hinter dem Steuer seines Testwagens. "Man sitzt schön hoch hier und hat sozusagen den Überblick." Die Sitze kommen von Johnson Controls und der Firma Brose und werden nahe Bratislava gefertigt. Die Fakten widersprächen Bofingers Kritik, sagt Sinn, als er auf den Münchener Altstadtring einbiegt. Der Anteil ausländischer Vorprodukte an deutschen Exportartikeln habe in den letzten Jahren signifikant von 27 auf heute 39 Prozent zugenommen, schneller als in jedem anderen Industrieland. Jeder zusätzliche reale Euro, der heute mit dem Warenexport verdient werde, beruhe schon zu 55 Cent auf Vorleistungen aus dem Ausland. Auf diese durch hohe Löhne künstlich beschleunigte Entwicklung wolle er aufmerksam machen.

600 Kilometer weiter östlich oder 25 Kilometer nördlich von Bratislava wird in diesen Wochen der letzte Bauabschnitt des Industrieparks von Lozorno vollendet. Dort hat AIG Lincoln, die Immobilientochter des weltgrößten Versicherers, auf Initiative von VW einen gewaltigen Zulieferkomplex errichtet, mit Bahn und Autobahnanschluss, versteht sich. Zahllose Lieferanten haben sich angesiedelt, darunter der Türen- und Sitzespezialist Brose, der Scheinwerferbauer Hella-Behr, aber auch internationale Größen wie Johnson Controls und Saint Gobain. Nun stehen die Bewerber erneut Schlange, denn schon im November werden im Werk Bratislava nicht nur der Touareg und der Porsche Cayenne, sondern auch der neue SUV von Audi, der Q7 gebaut.

Hans-Werner Sinn ist vor der Münchener Residenz angekommen. Sanft bremst er den Touareg V6, die Bremsen sind von Conti Teves, der Zulieferer hat Werke in Ungarn und in der Slowakei. Bald wird im Land der Hohen Tatra ein weiteres Werk hinzukommen. Der Konzern aus Hannover investiert dort etwa 60 Millionen Euro in eine Fabrik für Bremssättel und schafft damit 500 neue Jobs.

Spätestens 2010 will die Slowakei eine der führenden Autonationen der Welt sein. Nach Angaben des Branchenverbands VDA betreibt die deutsche Autoindustrie schon weit mehr als 200 Werke in den neuen Beitrittsländern. Im vorigen Jahr waren dort bereits gut 160 000 Menschen beschäftigt. Alles in allem hat die Branche dort zehn Milliarden Euro investiert.

Sinn steigt aus dem VW und blickt, von einer sich nähernden Politesse streng beobachtet, in den Kofferraum. "Der ist aber klein, wo nur der ganze Raum bleibt bei diesem Auto." Vor der Residenz haben meuternde Soldaten unter der Führung Hans Eisners vor 87 Jahren den letzten bayerischen König, Ludwig III., in die Flucht geschlagen. Plötzlich redet der Professor in historischen Dimensionen. "Natürlich können wir noch 15 Jahre so weitermachen, aber das wäre der direkte Weg in den Untergang."

In Bratislava zahlt VW 3,50 Euro die Stunde und damit nur etwa ein Zehntel von den Löhnen in Deutschland. Die Belegschaft des Werks ist trotzdem jung und motiviert. Dort gleiten auf Bändern aus Buchenholz mal zwei Touaregs, mal ein Cayenne entlang.

Es geht gen Starnberger See, Sinn steuert den Touareg auf die Berge zu. Auf einem Feldweg wird die Geländetauglichkeit getestet: "Hoher Komfort, fast wie in einer Audi-Limousine", sagt der Professor und prüft die Niveauregulierung per Knopf auf der Mittelkonsole. Privat fährt Sinn eine alte S-Klasse von Mercedes, Baujahr 1991. "Da können sie noch an jedem Schalter ertasten, wozu er dient."

Für seine These, die Exportstärke Deutschlands sei eher Ausdruck der Schwäche als der Stärke des Standorts, habe er in letzter Zeit viel Zustimmung auch von Kollegen bekommen. "Die fünf vor dem Komma bei der Arbeitslosenstatistik, die war schon entscheidend", sagt Sinn und spricht von einem Bewusstseinswandel im Land. Nur wenn es auch Beschäftigung im Niedriglohnsektor gebe, sei die Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Die niedrigsten Löhne müssten dann vom Staat unterstützt werden. "Es ist besser, Arbeit zu subventionieren, als Arbeitslosigkeit", sagt Sinn.

Eine kurze Fahrt über Stock und Stein, nichts rumpelt, nichts klappert, der Touareg zeigt im Gelände seine Stärken. "Es kommt nicht auf den Ort der Endmontage an, die Philosophie des Werkes ist entscheidend", heißt es im Hause Audi lobend über die VW-Fabrik in Bratislava, die bald auch den neuen Audi Q7 baut. "Ein wunderbares Werk", jubelt eine VW-Sprecherin.

Bald hat die Fahrt mit dem Auto aus der Slowakei in Gauting am Starnberger See ein Ende. Professors Sinn packt seine Sachen und sucht an seinem Test-VW ein letztes Mal nach einem Herkunftszeichen. Er findet keines, ehe er ganz zum Schluss, unten rechts an der Tür, doch noch eine Entdeckung macht. Da klebt ein kleiner weißer Zettel. "Webasto", steht darauf, "Fahrzeugheizung", und dann liest Sinn laut vor: "Made in Germany".


Gewinner oder Verlierer?

Begriff: "Man muss die Dinge auf den Begriff bringen", sagt Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener Ifo-Instituts. Seine These von der Basarökonomie: Gerade der deutsche Mittelstand verlagert große Teile der arbeitsintensiven Vorproduktion in die Niedriglohnländer Mittel- und Osteuropas. Millionen von Arbeitnehmern hätten wegen der starren Lohnstrukturen in Deutschland einerseits und den hohen Sozialleistungen andererseits ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren. Im Oktober erscheint Sinns neues Buch zum Thema (Titel: Die Basar-Ökonomie).

Gespenst: Sinns Thesen haben viele Kritiker auf den Plan gerufen: "Nicht haltbar" seien die Behauptungen, sagt etwa Gustav Adolf Horn, lange Jahre Widersacher seines Ifo-Kollegen unter den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten. Die deutschen Firmen hätten von der Verlagerung billiger Jobs ins Ausland profitiert, der Anteil der Wertschöpfung, die durch Exporte erzielt wird, habe sich binnen weniger Jahre auf 20,8 Prozent mehr als verdreifacht. Auch das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft bezeichnet die Basarökonomie als "Schreckgespenst". Die Auslagerung von Arbeitsplätzen bringe die heimische Wirtschaft vielmehr voran. Die deutsche Wirtschaft und damit auch der Mittelstand sei insofern sogar ein Globalisierungsgewinner und gehöre nicht zu den Globalisierungsverlierern.