Glücksrittertum begrenzen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Kultur am Bodensee, 01.07.2008, Nr. 05, S. 31-33

Am öffentlichen Teil der Veranstaltung, einer Podiumsdiskussion, bei der die Chancen zur Erneuerung durch die Finanzkrise beleuchtet wurden, nahm neben Vertretern der Finanzbranche aus der Schweiz und Professoren der Universität Konstanz als Gast auch Hans-Werner Sinn teil, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Nach Ende der Diskussionen war er zu einem Interview bereit, in das auch Frage der Kultur einfloßen.

Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen stellen in ihrer Arbeit fest, dass die Denke der Menschen immer „ökonomisierter“ wird, am Nutzen-Prinzip ausgerichtet, was sich in ihren Handlungen und im Zusammenleben ausdrückt. Was kostet es, was nützt es, was bringt mehr, zum Beispiel das neue Auto oder die Investition in Bildung und Qualifizierung? Sehen Sie das genau so?

Ja, das sehe ich genau so, wir kehren aber eigentlich zum Normalzustand zurück. Die Menschheit hat sich immer vorwiegend mit ökonomischen Themen beschäftigten müssen durch ihre Geschichte hindurch, weil Knappheit vorherrschte. Wir haben jetzt in der Bundesrepublik in paar Jahrzehnte auf der Insel der Seligen gelebt, wo Knappheit keine Rolle mehr zu spielen schien und auch der Sozialstaat durch seine laufende Expansion den Eindruck vermittelt hat als käme das Geld vom lieben Gott. Mittlerweile wissen wir, dass das Leben doch nicht so leicht geht. Es gibt immer wieder Krisen und wir kommen in eine Situation hinein, in der auch der Staat überfordert ist und diese Denk und Handlungsweise so nicht mehr aufgeht. Wir müssen die dieser schwierigen Zeit entsprechenden Wege finden, um zurecht zu kommen.

Führt diese schwierige Zeit dazu, die Menschen aufzurütteln, dazu, dass sie nachdenklicher werden? Das Geld fällt nicht vom Himmel, sagen Sie. Es ist für manchen sicher eine schmerzliche Erkenntnis, dass der Staat und der Teil des Sozialen im Wortbegriff der Marktwirtschaft nicht für alles gerade stehen können. Sehen Sie eine Chance für die Einsicht, wonach alles erst erarbeitet, verdient und, im jetzigen Kontext, daraus das Geliehene zurückgezahlt werden muss?

Ja, wenn dies erkannt wird, bedeutet diese Einsicht ein Stück Gesundung. Über 40 Prozent der Deutschen lebt von staatlichen Transfers. Das ist auch der Grund für die scheinbar immer noch hohe Stabilität in unserem Land, weil viele Leute finanziell noch gar nichts spüren von der Krise.

Gier war ein Triebmittel für die Entwicklung, die zu den heutigen Problemen auf den Finanzmärkten und in der Weltwirtschaft insgesamt geführt hat. Gier wird den Managern vorgehalten, trifft dieser Vorwurf aber nicht alle? Der Anspruch, immer mehr haben zu wollen, ist nicht auf eine bestimmte Clique begrenzt. Beschränkung – so lautet doch das Gebot der Stunde.

Natürlich. Die Managergehälter gehen derzeit wegen der erfolgsabhängigen Entlohnungskomponenten stark zurück. Wer vom Staat lebt, hat bisher noch nichts von der Krise zu spüren bekommen. Die Manager können das natürlich hinnehmen, weil sie auf einem höheren Niveau leben. Sie darben dennoch nicht. Die Gier ist dem Menschen eigen, man sieht sie in den Augen des Lottospielers genau so wie in den Augen des Anlegers oder auch des Bankmanagers. Es kommt darauf an, ein System zu haben, das diese Gier, oder vielleicht behutsamer ausgedrückt, diesen Eigennutz produktiv kanalisiert.

Das ist das Problem. Ein gutes Wirtschaftssystem setzt den Rahmen für private Aktivitäten so, dass der Eigennutz sich in produktiver Tätigkeit niederschlägt, statt in Raub und Diebstahl.

Ist es nicht so, dass wir ein gewisses Maß an Gier oder Eigennutz brauchen, weil dies letztlich das Triebmittel ist für Handeln, für Arbeit, für Leistung?

Ohne Eigennutz gäbe es kaum Arbeit, dann würde der Mensch auch nicht versuchen, besser zu werden. Die gesamte menschliche Entwicklung ist getrieben vom Eigennutz. Das ist die Triebkraft für unseren Wohlstand. Das erklärt ihn. Daher wäre es abwegig, den Eigennutz zu verteufeln. Die Frage ist müßig, ob wir ihn abschaffen wollen oder sollen. Nein, wir müssen ihn kanalisieren, so dass sich Eigennutz nicht darin äußern kann, dass man Finanzprodukte erfindet, um anderen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Da müssen staatliche Regeln her. Eigennutz muss sich darin äußern, dass man fleißig arbeitet, um sich auf diese Weise ein Häuschen zu bauen und es im Leben zu etwas zu bringen. Das ist produktiver Eigennutz, den brauchen wir.

Sie sprechen den Staat an. Auch er befindet sich nicht in einer komfortablen finanziellen Verfassung, die Kassenlage ist desolat. Darf er im Ranking der Ausgabenprioritäten nun die Kultur nach hinten schieben, weil der return on invest dort nicht so vordergründig, nicht so schnell messbar ist? Kultur in ihrem breiten Spektrum, das viel zu tun hat mit Bildung, mit Infrastruktur, mit – siehe die Managerdiskussion – rechtlichen Rahmenbedingungen. Bleibt Kultur trotz der Probleme eine der vornehmsten Aufgaben des Staates, weil sie der Kitt ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält?

Natürlich hat der Staat eine große Aufgabe im Rahmen der Kulturförderung, die er weiterhin wahrnehmen muss. Aber dafür braucht er eine gut funktionierende Wirtschaft. Und das ist etwas, was viele Leute leider übersehen. Sie glauben, dass das Geld nur den Reichen weggenommen werden muss über ein Steuersystem, damit man die Kultur und alles Sonstige finanzieren kann. Dieser Topf ist aber sehr schnell leer, so viele Reiche gibt es gar nicht. Nur wenn die Wirtschaft floriert, kann man die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft mitschleppen. Mit einer Umverteilung der Besitzstände kommt man nicht weit. Das reicht für ein paar Jahre, und dann ist alles zu Ende. Auch die Kultur kann nur dann florieren, wenn die Wirtschaft floriert.

Kann man sagen: Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts?

So kann man es formulieren.

Gemäß dem Motto, wonach das Schicksal von Börse und Konjunktur ein gutes Stück Philosophie sei wird in diesen Tagen viel darüber diskutiert, wo wir stehen und wie man die Situation benennen soll. Mitten in der Krise, auf dem Höhepunkt der Krise, am Ende der Krise auf Sichtweite des Silberstreifs. Wo stehen wir?

Der Silberstreif bezieht sich auf die Erwartungen in den Schwellenländern und den USA. Man schöpft dort wieder Hoffnung. Ich traue dem Braten aber noch nicht. In Europa ist die Krise noch lange nicht vorbei. Sie wird noch weitere Wirtschaftsbereiche erfassen und wird uns nächstes Jahr erwischen. Auch am Arbeitsmarkt bekommen es dann viele Leute zu spüren. Und irgendwann muss das Budget ausgeglichen werden, aber das darf nicht in der Krise geschehen. So lange sie anhält, muss der Staat weiterhin eine expansive Verschuldungspolitik betreiben, so problematisch das ist. Wir haben eine solch schwierige Krise, dass wir ohne staatliche Konjunkturprogramme Gefahr liefen, die Verhältnisse von 1928 bis 1932 zu wiederholen, und das will ja wohl bitte keiner.

Und wie, bitte, lauten Ihre Rezepte? Und – wenn wir uns noch einmal an die Kultur erinnern, werden wir aus der Krise lernen? Die strapazierten Ausdrücke wie Vertrauen, Zuverlässigkeit, Nachhaltigkeit, man wagt es kaum sagen, Ethik, werden sie mehr sein als Worthülsen? Und wer muss da mit gutem Beispiel vorangehen, wer trägt die Verantwortung, die Politik oder die Wirtschaft? Wer zieht den Karren aus dem – auch moralischen – Sumpf?

Besonders wichtig ist es, das Bankensystem zu reparieren. Da schlummern noch riesige Lasten. Ich denke, der Staat muss die Banken mit Eigenkapital ausstatten, damit sie wieder bereit sind, den Firmen und untereinander Kredite zu geben. Wir brauchen ferner eine ganz neue Bankenregulierung mit sehr viel höheren Eigenkapitalanforderungen, um das Glücksrittertum in Zukunft zu begrenzen. Die Krise des Kapitalismus, in der wir heute stecken, ist eine Bankenkrise. Das darf man nicht übersehen. Und hier muss man das Übel an der Wurzel packen. Zum kapitalistischen System an sich gibt es keine Alternative, es sei denn, man hielte allgemeine Armut und Siechtum ohne Kultur dafür.