"Noch ist der Aufschwung nicht gefestigt"

Hans-Werner Sinn - Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München äussert sich zur konjunkturellen Erholung und zu den noch lauernden Gefahren
Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanz und Wirtschaft, 30.12.2009, Nr. 101, S. 26

Das Geschäftsklima in Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz, wird freundlicher. Seit April bereits weist der vom Ifo-Institut in München erhobene Geschäftsklimaindex, eines der renommiertesten Konjunkturbarometer des Landes, eine steigende Tendenz auf. Die momentane Geschäftslage ist im Dezember von den Unternehmen wiederum etwas günstiger eingeschätzt worden als im Vormonat. Auch den Geschäftsverlauf der kommenden sechs Monate schätzten die befragten Gesellschaften eine Spur besser ein als noch im November. Nach dem scharfen Einbruch im vergangenen Winter wirkten die aktuellen Umfrageergebnisse wie ein Festtagsgeschenk, meint der Präsident des Instituts, Professor Hans-Werner Sinn. Im Interview erläutert er seine Konjunkturerwartungen. Darüber hinaus äussert er sich zu den staatlichen Interventionen und der damit einhergehenden Verschuldung und geht ebenso auf den Arbeitsmarkt ein wie auf die Inflationsgefahr und die drohende Kreditklemme.

Herr Sinn, teilen Sie die Einschätzung, dass nach dem scharfen Einbruch des Wirtschaftswachstums bereits viele Unternehmen wieder recht optimistisch in die Zukunft blicken?

Unsere Umfragen bestätigen, dass die Mehrheit der befragten Unternehmen zuversichtlich nach vorn blickt. Die Lagebeurteilung ist aber noch immer schlechter als nach dem Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001. Es handelt sich also um den Optimismus eines Abgestürzten, der weiss, dass er überlebt hat.

Das Ifo-Institut erwartet für 2010 in Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 1,7%, ehe es 2011 auf 1,2% zurückgeht. Mit was für einer Streubreite ist Ihre Prognose für 2010 versehen?

Der Streubereich, in dem sich die Prognose mit zwei Dritteln Wahrscheinlichkeit bewegt, reicht von 0,9 bis 2,5%.

Wie nachhaltig ist der Aufschwung?

Von Nachhaltigkeit kann noch keine Rede sein. Die Kapazitäten der Unternehmen sind nicht ausgelastet. Und bevor kein hoher Auslastungsgrad erreicht ist, sind keine Investitionen zu erwarten. Das bedeutet, die Investitionsgüternachfrage, von der die entscheidende konjunkturelle Dynamik fast immer ausgeht, fällt weitgehend aus. Zudem gehen die Mittel aus Konjunkturpaketen zur Neige.

Welchen Stellenwert hat Wirtschaftswachstum in Zeiten wie heute, in denen die Umwelt zunehmend in die Betrachtung mit einbezogen wird?

Wenn man Wachstum hat, kann man sich mehr Umweltschutz leisten. Erst mit wachsendem Wohlstand ist es uns gelungen, das Geld zur Reinigung der Flüsse und der Luft aufzubringen. Umweltschutz verlangt Verzicht, und das kostet Lebensstandard. Doch um auf Lebensstandard verzichten zu können, muss man auch welchen haben. Wohlgemerkt, ich bin für Umweltschutz, nur halte ich die Behauptung, Umweltschutz schaffe Wachstum, für billige Propaganda.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien beeindruckt. Bleibt das so?

Das wirtschaftliche Wachstum in der Welt ist momentan konvergenzgetrieben. Es ist ein Aufholwachstum. China, Indien und andere Schwellenländer haben einen erheblichen Nachholbedarf. Diese Länder vollziehen eine Entwicklung, die Deutschland und andere Industrienationen früher genauso erlebt haben.

Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, setzt die Bundesregierung in Berlin auf steuerliche Entlastungen für Unternehmen und private Haushalte. Andere drängen auf die Sanierung der öffentlichen Haushalte. Was hat Priorität?

Eine spürbare Steuerentlastung halte ich für sinnvoll. Man sollte sie schon 2010 realisieren und durch Schulden finanzieren. Nur dann entfaltet sie ihre konjunkturelle Wirkung. Derzeit bedarf die Wirtschaft noch einer Nachfragestütze. Hätten sich die Staaten der westlichen Welt im vergangenen Jahr nicht massiv verschuldet, wäre die Weltwirtschaft abgestürzt wie nach 1929. Ich warne davor, bereits 2010 das Budget konsolidieren zu wollen. Jetzt brauchen die Regierungen ein gewisses Stehvermögen. Eine so tiefe Krise ist nicht nach einem Jahr vorbei.

Laufen wir nicht Gefahr, unseren Kindern und Enkeln einen Schuldenberg zu hinterlassen?

Es ist besser, der nächsten Generation Schulden zu hinterlassen als einen Scherbenhaufen.

Wann sollte die Haushaltskonsolidierung denn beginnen?

Wenn die Wirtschaft wieder in Schwung kommt, muss der Staat seine Verschuldung zurücknehmen und wenn möglich mit der Tilgung beginnen. Wenn sie nicht wieder in Schwung kommt, muss irgendwann trotzdem konsolidiert werden, denn eine Dauerverschuldung ist schädlich. Ich gehe davon aus, dass man ab 2011 eine Gegenfinanzierung für die Steuersenkung braucht.

Die EU verlangt von Deutschland, bis 2013 das Maastrichter Kriterium der Neuverschuldung von 3% des BIP wieder einzuhalten. Bundesfinanzminister Schäuble will bereits 2011 beginnen, das strukturelle Defizit abzubauen. Ist das realistisch?

Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ich teile seine Präferenzen.

Und die geplanten Steuersenkungen…

…sollte man ab etwa 2011 durch Ausgabenkürzungen finanzieren. Kürzungsspielräume gibt es bei den Subventionen, vor allem im Umweltbereich. Hier bedarf es dringend einer Durchforstung. Das Erneuerbare- Energien-Gesetz zum Beispiel kostet jedes Jahr Milliarden und bringt rein gar nichts, weil es wegen des europäischen Emissionshandels nur zu einer Verlagerung der CO2-Emissionen in andere europäische Länder führt.

Die Verschlechterung am Arbeitsmarkt hat sich bislang in Grenzen gehalten. Was ist da noch zu erwarten?

Die Arbeitslosenzahl wird 2010 im Durchschnitt um etwa 180 000 auf 3,6 Mio. steigen. Die zu Jahresbeginn manchenorts befürchteten 5 Mio. werden wir nicht sehen. Hier wirken die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Schröders Agenda 2010 und die von der Regierung Merkel eingeführte Kurzarbeit äusserst segensreich. Was am Arbeitsmarkt geschehen ist, kommt einem Wunder gleich.

Dank der Kurzarbeit wurde der private Konsum zur entscheidenden Konjunkturstütze, als die deutschen Exporte weg brachen. Wird der Konsum sein Niveau halten können?

Während der private Konsum weltweit geschrumpft ist, ist er in Deutschland stabil geblieben. Aktuell wächst sogar wieder die Bereitschaft, langlebige Konsumgüter zu kaufen. Einkommen und privater Konsum dürften Anfang 2010 kurzfristig Impulse aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz und den bisher beschlossenen Steuerentlastungen erhalten. Danach wird die Dynamik aber verhalten sein. Der Konsum wächst 2010 mit 0,2% langsamer als das Sozialprodukt und die privaten Einkommen. Die Sparquote wird leicht steigen und bleibt auf hohem Niveau.

Welche Chancen sehen Sie für die Exporte?

Die Exportdynamik ist der Haupttreiber der deutschen Konjunktur im Prognosezeitraum. Die Länder Asiens haben sich schon wieder gefangen und wollen nun ihre Kapazität ausweiten. China, Indien, Brasilien und andere Staaten benötigen für ihr Wachstum Investitionen. Deutschland ist ihr wichtigster Lieferant für Investitionsgüter – solange sie sie nicht selbst herstellen können. Dennoch ist die Bundesrepublik zu exportlastig; das lässt sich kurzfristig aber nicht ändern. Deshalb ist und bleibt der Export die wichtigste Stütze für den Aufschwung. Mittel- bis langfristig wird diese Abhängigkeit aber hoffentlich nachlassen.

Man kann nicht über Exporte reden, ohne die Wechselkurse anzusprechen. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der amerikanischen Währung?

Der Dollar verliert als Bezugsgrösse an Bedeutung. Er wird auf absehbare Zeit niedrig bleiben. Das ist auch nötig, weil das hohe amerikanische Leistungsbilanzdefi- zit verschwinden muss.

Die Inflation liegt im Euroraum deutlich unter der von der EZB vorgegebenen Obergrenze. Wird der Teuerungsschub noch kommen?

Nein. Die Finanzminister könnten wegen der hohen Staatsverschuldung zwar versuchen, auf eine inflationäre Notenbankpolitik zu drängen. Aber sie werden bei der EZB kein Glück haben. Die europäische Notenbank ist unabhängig. Ich sehe nicht die Gefahr von inflationären Tendenzen, sondern ganz im Gegenteil die Gefahr einer Deflation à la Japan. Damit Sie mich richtig verstehen: Eine Gefahr zu sehen, heisst nicht, das Ereignis zu prognostizieren. Es heisst nur, dass man aufpassen muss, dass aus der Gefahr keine Realität wird.

Für die weitere wirtschaftliche Entwicklung spielen die Banken eine wesentliche Rolle. Soll es zu einem nachhaltigen Aufschwung kommen, muss die Kredit vergabe gesichert sein. Können wir davon ausgehen?

Leider nicht. Die Mehrheit der grösseren Unternehmen in Deutschland klagt über eine zu restriktive Kreditvergabe. Die Banken haben in der Krise viel Eigenkapital verloren und werden deshalb – und mit Blick auf eine verschärfte Regulierung – kaum in der Lage sein, eine reibungslose Kreditversorgung sicherzustellen. Das heisst mit hoher Sicherheit, dass sich eine Kreditklemme aufbaut.

Wie lässt sich dem entgegenwirken?

Das Problem kann nur gelöst werden, wenn man die Banken zwingt, sich das Eigenkapital notfalls vom Staat zu besorgen. Der Löwenanteil der dafür vorgesehenen Mittel ist noch nicht abgerufen. Der Staat muss die Banken zwingen, das Geld zu nehmen, damit die Kreditklemme vermieden wird. Die Banken selbst wollen das Geld nicht, weil dann die Eigenkapitalrendite verwässert wird. Man könnte natürlich auch die Standards lockern, nur hiesse das, die Krisenanfälligkeit des Systems noch weiter zu vergrössern.

Die Unternehmen, vor allem die mittelständischen, bedienen sich in Deutschland vorzugsweise der Kreditfinanzierung. Wäre es nicht an der Zeit, vermehrt den Kapitalmarkt zu beanspruchen?

Wir benötigen in Deutschland einen florierenden Markt für Eigenkapital. Ansatzweise hatten wir ihn Ende der Neunzigerjahre in Form des Neuen Marktes. Dieser Markt stellte Eigenkapital für kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung. Allerdings kollabierte er in der Dotcom- Krise. In Deutschland hat die Kette der Eigenkapitalfinanzierung – von Venture Capital bis zur Aktienfinanzierung – nie richtig funktioniert.

Weshalb nicht?

Die Gründe sind vielfältig. Sie betreffen die Dominanz der Banken, die Diskriminierung des Eigenkapitals im Steuerrecht, die hohen rechtlichen Hürden für Aktienemissionen und die umlagefinanzierte Sozialversicherung, die die potenzielle Nachfrage nach Aktien für die Altersvorsorge verringert hat.