Sinn: Deutsche Einheit wirtschaftlich keine Erfolgsgeschichte

ifo-Präsident sieht keinen selbst tragenden Aufschwung in Ostdeutschland - Solidarzuschlag sollte nach 2019 entfallen
Passauer Neue Presse, 22.09.2010, S. 6

Berlin/Passau. Die Deutsche Einheit sei wirtschaftlich keine Erfolgsgeschichte. Dies sagte Prof. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts, im PNP-Interview.

War die Deutsche Einheit aus wirtschaftlicher Sicht eine Erfolgsgeschichte?

Sinn: Nein. Die Wiedervereinigung ist extrem teuer geworden. Es ist eine Transferunion entstanden. Von einem sich selbst tragenden Aufschwung in Ostdeutschland kann keine Rede sein. Der Lebensstandard in den neuen Ländern ist zwar real auf knapp 90 Prozent des Westniveaus angekommen, bei den gesetzlichen Rentnern liegt er sogar 20 Prozent darüber. Das entspricht aber bei weitem nicht der eigenen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in den neuen Ländern. Das private Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt auf dem Gebiet der Ex-DDR gerade einmal bei 65,8 Prozent des Westniveaus, und das trotz der künstlichen Nachfragesteigerung durch die West-Ost-Transfers. Die viel beschworene Angleichung der Lebensverhältnisse ist mit viel Geld erkauft worden. Von 1990 bis heute sind knapp 1,2 Billionen Euro an Transfers in die neuen Bundesländer geflossen. Dazu müssen noch die Transfers nach Ost-Berlin addiert werden, die ich nicht kenne.

Helmut Kohl hatte blühende Landschaften versprochen. Wurden die Herausforderungen damals unterschätzt?

Sinn: Das war ein unhaltbares Versprechen. Der Hauptwebfehler der Einheit war allerdings, dass das westdeutsche Tarifrecht im Osten von Anfang an übernommen wurde, bevor die Wirtschaft privatisiert war. Die Gewerkschaften und vor allem auch die Arbeitgeberverbände aus dem Westen haben das ausgenutzt, indem sie sich in Ostdeutschland niederließen und die Löhne ihrer ostdeutschen Konkurrenten diktierten. Das war der eigentliche Skandal. Die Treuhandanstalt als formaler Eigentümer der Ost-Betriebe hat dem Treiben tatenlos zugesehen.

Aber wie konkurrenzfähig waren die Betriebe im Osten?

Sinn: Allein waren sie natürlich nicht konkurrenzfähig, aber es ging um die ausländischen Investoren aus Japan und anderen Ländern, die schon in den Startlöchern saßen, um die Treuhandbetriebe zu übernehmen. Sie hätten Investitionskapital für neue Produktionsverfahren und vor allem neue Produkte gehabt, mit denen sich der europäische Markt hätte aufrollen lassen. Die Investoren sollten, wenn sie denn wirklich kommen wollten, gefälligst westdeutsche Löhne zahlen, anstatt vor der eigenen Haustür eine Niedriglohnkonkurrenz aufzubauen. Innerhalb von fünf Jahren sollte so das West-Niveau bei den Löhnen erreicht werden. Die fatale Folge dieser Lohnpolitik war, dass die Investoren eben nicht kamen.

Wie gerechtfertigt ist der Solidarzuschlag heute eigentlich noch?

Sinn: Der Soli hatte nie eine wirklich tragende Bedeutung für die Finanzierung des Aufbau Ost. Mit den Einnahmen aus dem Solidarzuschlag wurde gerade einmal ein Achtel bis ein Zehntel der Nettotransfers in die neuen Bundesländer bezahlt. Der Rest kam aus den allgemeinen Haushalten und wurde durch Verschuldung finanziert. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts im Jahr 2019 sollte der Solidarzuschlag entfallen. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wäre eine weitere Förderung nicht mehr zu rechtfertigen. Wir haben heute schon im Westen Regionen, denen es schlechter geht als in vielen Regionen im Osten. Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer müssen die Unterschiede zwischen den Bundesländern wieder vollständig über den Länderfinanzausgleich abgefangen werden.

Interview: Rasmus Buchsteiner

Nordkurier, 22.09.2010, S. 2
Nordwest Zeitung, 22.09.2010, S. 2
Schweriner Volkszeitung, 22.02.2010, S. 2