"Wir müssen mehr sparen"

Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Wirtschaftsinstituts: Lohn- und Konsumzurückhaltung könnte den Aufschwung bringen.
Interview mit Hans-Werner Sinn, Rheinische Post, 23.12.2005, B3

Herr Professor Sinn, die Metall-Arbeitgeber versprechen für 2006 Beschäftigungsaufbau gegen eine reale Minusrunde. Ist das vernünftig?

Sinn: Auf jeden Fall ist das gut möglich. Denn die Konjunkturentwicklung sieht positiv aus, so dass damit der verhängnisvolle Trend der Beschäftigungsabnahme wenigstens temporär gestoppt werden kann, wenn an der Lohnfront Vernunft einkehrt.

Wie sollen schrumpfende Löhne zu mehr Beschäftigung führen?

Sinn: Je niedriger die Löhne, desto größer sind die arbeitsintensiv produzierenden Sektoren, desto geringer ist der Anreiz, Menschen durch Roboter zu ersetzen, und desto weniger Firmen verlagern Arbeitsplätze ins Ausland. Hier laufen längerfristige Prozesse ab. Die Faustformel ist: Ein Prozent Lohnzurückhaltung bedeutet längerfristig ein Prozent mehr Beschäftigung - aber das kann ein Jahrzehnt dauern.

Mit weniger Geld in der Tasche - wie springt da die Binnenkaufkraft an?

Sinn: Die Arbeitnehmer haben zwar weniger Geld in der Tasche, aber die Unternehmen haben entsprechend mehr. Die Kaufkraft wird verlagert, aber nicht verkleinert.

Nur: Autos kaufen keine Autos?

Sinn: Das ist einer dümmsten Sprüche der Wirtschaftsgeschichte, auch wenn er von Henry Ford stammt. Die Kette läuft so: Weil es rentabler wird, investieren die Unternehmen mehr im Inland, das sorgt für zusätzliche Investitionen. Investitionen sind Nachfrage nach den Produkten der Investitionsgüterindustrie. Beispiel: Wenn eine Maschinenbaufirma eine zusätzliche Nachfrage nach seinen Produkten erfährt, dann stellt sie mehr ein - und investiert auch selbst mehr.

Im Jahr 2006 ist die Mehrwertsteuer mit 16 Prozent noch vergleichsweise niedrig, bevor sie 2007 auf 19 Prozent angehoben werden soll. Müssen wir schnell auf den Konjunkturzug aufspringen und kaufen?

Sinn: Ich kann jedem nur raten, mehr zu sparen, statt mehr zu konsumieren, denn die langfristigen demographischen Probleme sind erheblich. Die Rente ist eben nicht mehr sicher. Sicher ist nur, dass das Rentenniveau fällt. Freilich sollten die Firmen die Ersparnisse aufgreifen und mehr investieren. Wir haben derzeit die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller entwickelten Länder der Erde.

Der deutsche Export boomt - und das trotz weltmeisterlicher Löhne?

Sinn: Nicht trotz, sondern wegen! Die hohen Löhne haben die arbeitsintensiven Branchen im Übermaß verdrängt. Kapital, Boden, Gebäude, Talente und einfache Arbeit wurden in der Bekleidungsindustrie, beim Bau, in der Feinmechanik, der optischen Industrie, der Lederindustrie und vielen anderen arbeitsintensiven Branchen freigesetzt und drängten dann in die kapitalintensiven Exportsektoren, die noch am ehesten mit den hohen Löhnen für einfache Arbeit zurecht kamen.

Die Jobs verlagern sich also nur?

Sinn: Leider wurden dort nicht so viele Jobs geschaffen, wie anderswo verloren gingen, so dass per Saldo Arbeitslosigkeit entstand. Vor naiven Interpretationen der Exportstatistik kann man nur warnen. Es gibt also keine Entwarnung an der Lohnfront. Deutschland ist Schlusslicht beim Wachstum, bei den Investitionen, bei der Beschäftigung der gering Qualifizierten und bei der Entwicklung der Industriebeschäftigung, und wir sind bei den Lohnkosten der Industriearbeiter Vize-Weltmeister. Das alles spricht nicht für eine Entwarnung.

Zu welcher Lohnzahl raten Sie im kommenden Jahr?

Sinn: Ich empfehle eine Lohnerhöhung in Höhe der Inflation: Wir prognostizieren 1,7 Prozent für 2006. Der Produktivitätszuwachs sollte bei den Unternehmen verbleiben, um die Lage insbesondere gegenüber der Niedriglohnkonkurrenz in Osteuropa zu verbessern.

Alexander von Gersdorff sprach mit Hans-Werner Sinn .