Die Axt am Euro

Die Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein und Hans-Werner Sinn über Euro-Bonds, den richtigen Umgang mit Schuldenstaaten und die Frage, wie viel Hilfe Deutschland seinen Nachbarn noch leisten kann, bevor es selbst zusammenbricht
Interview mit Hans-Werner Sinn, Der Spiegel, 22.08.2011, Nr. 34, S. 69

SPIEGEL: Herr Sinn, Herr Enderlein, brauchen wir Euro-Bonds, also gemeinsame Staatsanleihen, um die Finanzkrise zu beenden?

Enderlein: Auf jeden Fall. Richtig konstruiert sind Euro-Bonds das beste Instrument, um den Kollaps des Euro-Raums zu verhindern.

Sinn: Das Gegenteil ist richtig: Euro-Bonds würden die Euro-Zone zerstören. Wenn alle Länder, unabhängig von ihrer Bonität, denselben Zinssatz zahlen, werden die letzten Hemmungen gegen eine überbordende Staatsverschuldung fallen.

Enderlein: In einem funktionierenden wirtschaftlichen Umfeld hätten Sie mit Ihrer These recht, Herr Sinn. Aber wir haben eine Krise, und um die zu beenden, brauchen wir eine schnelle Umschuldung in Griechenland, Portugal und wahrscheinlich auch Irland. Wir müssen den Gläubigern dieser Länder ein sicheres Papier in die Hand geben. Mein Vorschlag lautet: Für zwei griechische Anleihen gibt es einen Euro-Bond. Für die Anleger bedeutet das einen Verlust von etwa 50 Prozent. Aber dafür bekämen sie ein Papier, das die Banken auch bei der Zentralbank und im Interbankengeschäft als Sicherheit hinterlegen können.

Sinn: 1995, kurz bevor die Wechselkurse für den Euro festgelegt wurden, lagen die Zinsaufschläge Italiens und Spaniens im Vergleich zu Deutschland im Schnitt bei 5 Prozent. Ende Juli 2011, auf dem Höhepunkt der Turbulenzen, betrug der Unterschied nur 3,4 Prozent - und das bei einem insgesamt viel niedrigeren Zinsniveau als damals. Diese Zinsunterschiede sind gut für den Euro-Raum. Nur aus Angst vor Zinsaufschlägen haben die Italiener nun endlich ein Sparprogramm aufgelegt, nachdem sie jahrelang die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts missachtet haben. Euro-Bonds würden diese Disziplinierungswirkung beseitigen.

Enderlein: Aber Herr Sinn! Sie können doch das Europa von 1995 nicht mit dem heutigen vergleichen. Damals konnte jedes Land seine eigene Geldpolitik verfolgen und die Notenpresse anwerfen, um die eigene Währung abzuwerten. Heute ist das nicht mehr möglich; deshalb sind heute auch die Zinsen niedriger.

Sinn: Gerade weil wir heute eine gemeinsame Währung haben, brauchen wir die Zinsunterschiede, um die Kapitalströme in Schach zu halten. Jede Regierung hat es selbst in der Hand, ihre Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und ihre Gläubiger davon zu überzeugen, dass sie das Geld auch zurückzahlen wird. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, die Schulden durch Euro-Bonds zu vergemeinschaften. Euro-Bonds sind ein Stück Sozialismus. Sie gehören nicht in unsere Wirtschaftsordnung.

Enderlein: Mit Sozialismus hat das nichts zu tun. Es geht darum, die absurd hohen Zinssätze, die einige Länder heute an den Märkten zu zahlen haben, auf normales Niveau zu bringen. Natürlich muss das mit Auflagen verbunden werden, damit das Steueraufkommen steigt und die Staatsausgaben sinken. Aber die Länder brauchen eine Wachstumsperspektive. Was passiert denn, wenn Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien jetzt gleichzeitig einen brachialen Sparkurs fahren, wie Sie ihn fordern? Die Konjunktur im gesamten Euro-Raum würde zusammenbrechen. Deutschland geriete in den Sog der Rezession. Und am Ende stünden wir alle schlechter da.

Sinn: Die Schuldenstaaten müssen sich endlich der Wirklichkeit stellen. Sie können den künstlichen Boom, den sie bislang mit fremdem Geld finanziert haben, nicht aufrechterhalten .

Enderlein: Das stimmt, aber eine Rezession würde doch gerade die exportabhängige deutsche Wirtschaft sehr hart treffen.

Sinn: Unsere Wirtschaft steht vergleichsweise gut da. Deutschland hatte unter dem Euro zunächst sehr viel Kapital verloren. Das Geld floss in die Länder der europäischen Peripherie und befeuerte dort die Wirtschaft bis zur Überhitzung. Deutschland litt währenddessen unter Massenarbeitslosigkeit, trug die rote Laterne und musste schmerzliche Sozialreformen durchführen, um billiger zu werden. Jetzt, in der Krise der Schuldenländer, trauen sich die deutschen Banken und die anderen Kapitalanleger nicht mehr hinaus. Es wird wieder mehr in Deutschland investiert. Wenn wir mit Euro-Bonds das Geld wieder ins Ausland treiben, kehrt bei uns die Flaute zurück, während die südlichen Länder ihren inflationären Boom fortsetzen.

SPIEGEL: Herr Sinn, welche Folgen hätten Euro-Bonds Ihrer Ansicht nach für den Staatshaushalt?

Sinn: Je nach Ausgestaltung käme auf uns langfristig eine zusätzliche Belastung wegen höherer Zinsen von etwa 30 Milliarden, möglicherweise bis zu 47 Milliarden Euro zu. Werden die Euro-Bonds so konstruiert, dass Deutschland gesamtschuldnerisch haftet, ist diese Summe kleiner - aber um welchen Preis! Dann tragen wir das ganze Risiko.

Enderlein: Mich überrascht, dass Sie als Ökonom nur einen Teil der Gleichung betrachten. Wenn Sie Ihr Haus sanieren, kalkulieren Sie doch nicht nur die damit verbundenen Ausgaben, sondern auch, was es kostete, wenn das Haus verfiele, oder etwa nicht? Was wird es Deutschland kosten, wenn diese Krise noch Jahre anhält oder der Euro-Raum zerbricht? Den zu erwartenden Schaden verschweigen Sie. Ihre Zahl zu den angeblichen Zusatzbelastungen ist im Übrigen hoch spekulativ. Eine europäische Anleihe könnte weltweit begehrt sein. Dann würden die Zinsen für uns nur marginal steigen oder könnten sogar sinken.

Sinn: Sie halten Euro-Bonds für ein Sanierungswerkzeug. Ich sage, Euro-Bonds legen die Axt an den Euro. Sie machen die Schuldenmoral kaputt. Die peripheren Länder werden weiter über ihre Verhältnisse leben. Ich bin dafür, den Euro zu erhalten.

Enderlein: Das freut mich.

Sinn: Wirtschaft und Handel brauchen den Euro. Wenn wir ihn nicht weiter beschädigen wollen, muss die Schuldenmacherei aufhören.

Enderlein: Es gibt eine Möglichkeit, die Euro-Bonds so zu konstruieren, dass den Krisenländern geholfen wird, ohne deren Schulden zu sozialisieren. Der Vorschlag sieht so aus, dass Euro-Bonds nur Staatsschulden in Höhe von maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abdecken. Was darüber hinausgeht, müssen die Staaten über eigene Anleihen finanzieren, auch wenn sie dafür unter Umständen sehr viel höhere Zinsen zahlen. Die Euro-Bonds würden auf diese Weise sogar erzieherisch wirken. Die Schuldenlast nicht über 60 Prozent der Wirtschaftskraft steigen zu lassen entspricht dem Wert aus dem Maastricht-Vertrag.

Sinn: Für die nächsten Jahre steht eine solche Regel doch bloß auf dem Papier. Die Staaten werden die Euro-Bonds nutzen, um nach und nach ihre Altschulden umzutauschen, und zwar in voller Höhe. Sobald nämlich die ersten Staaten an die 60-Prozent-Grenze stoßen, werden sie alle Hebel in Bewegung setzen, um diese Grenze weiter zu verschieben.

Enderlein: Deshalb sollten nicht die Staaten, sondern ein europäischer Finanzminister über die Grenze entscheiden. Der Euro-Bond muss mit harten Auflagen verbunden sein. Die Schuldnerländer müssen Souveränität abgeben; das ist der Preis, den sie zahlen müssen.

SPIEGEL: Und welchen Preis müssen die Deutschen zahlen?

Enderlein: Das Wachstum in Deutschland stagniert bereits. Die Wertverluste an den Aktienmärkten treffen uns alle. Mit dem Euro-Bond hätten wir ein probates Mittel, um die Krise zu beenden.

Sinn: Probates Mittel? Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien haben zusammen 3,1 Billionen Euro Staatsschulden. Das ist zweimal so viel, wie die deutsche Vereinigung gekostet hat. Wollen Sie im Ernst, dass unsere Kinder dafür haften?

Enderlein: Meine Kinder sind Europäer, und eine Pleite Italiens wäre für sie perspektivisch deutlich teurer als die Einführung von Euro-Bonds. Sie, Herr Sinn, sagen, Sie seien für den Euro. Aber gleichzeitig wollen Sie möglichst nichts dafür tun, dass er überlebt. Sie finden den Euro nur gut, solange er uns Deutsche nichts kostet; so geht das aber nicht.

Sinn: Mit Euro-Bonds schaffen Sie eine Ansteckungsgefahr über die Staatsbilanzen. Es ist ein Grundprinzip der marktwirtschaftlichen Ordnung, dass man für Entscheidungen, die man selbst getroffen hat, auch selbst haftet. New York musste Mitte der siebziger Jahre seine Steuereinnahmen verpfänden, weil keiner half.

Enderlein: Aber es gibt in den USA einen Bundesstaat, der alles zusammenhält. Orientieren wir uns doch an diesem Beispiel.

SPIEGEL: Herr Sinn, sind Sie dagegen, dass Europa stärker zusammenwächst?

Sinn: Nein, im Gegenteil, ich teile die Vision der Vereinigten Staaten von Europa. Schaffen wir einen europäischen Bundesstaat mit einer entsprechenden Verfassung - ich bin dabei. Aber erst müssen alle Bewohner der EU-Länder das gleiche Stimmgewicht erhalten. "One man, one vote", wie die Amerikaner sagen. Deutschland ist in praktisch allen EU-Gremien unterrepräsentiert.

Enderlein: Deutschland hat in allen zentralen Fragen schon jetzt ein Vetorecht. Aber: Ja, stärken wir die europäischen Institutionen!

SPIEGEL: Sollte Griechenland zur Drachme, seiner alten Währung, zurückkehren?

Sinn: Griechenland ist viel zu teuer, um wettbewerbsfähig zu sein. Es muss billiger werden, um die 20 bis 30 Prozent, aber das kriegt man mit dem Euro nicht hin. Ohne Dauerhilfen drohen Zustände wie in der Weimarer Republik. Griechenland würde an den Rand des Bürgerkriegs getrieben.

Enderlein: Eine Rückkehr zur Drachme macht dieses Szenario doch viel wahrscheinlicher. Das Land könnte die hohen Euro-Schulden nie bedienen, das Bankensystem wäre kaputt. Um den Griechen eine Perspektive zu geben, braucht es einen Schuldenschnitt, Euro-Bonds und harte Auflagen an die dortige Wirtschaftspolitik.

Sinn: Das ändert nicht das Geringste daran, dass das Land zu teuer ist. Um die Abwertung kommt man nicht herum. Wenn Griechenland aus dem Euro austritt, brennen zwar ein paar Bankbilanzen, doch die Bankgebäude bleiben intakt. Nach einem halben Jahr ist das Schlimmste überstanden. Dann kann Griechenland wirtschaftlich wachsen wie die Türkei, die sich durch Abwertung ihrer Lira immer wettbewerbsfähig gehalten hat. Wenn Griechenland den Euro behält, kommt es nie wieder auf die Beine. Das Land wird permanent am Tropf hängen.

Enderlein: Genauso hat auch die amerikanische Regierung gedacht, als sie entschied, Lehman Brothers pleitegehen zu lassen: Ein reinigendes Gewitter, dann ist die Sache erledigt. Bekanntermaßen war das eine Fehleinschätzung.

Sinn: Ein Fall Lehman kann sich nicht wiederholen. 2008 wurde in Washington ein Abkommen zur Rettung der systemrelevanten Banken getroffen. Der Finanzmarkt kam wieder in Gang. Dieses Abkommen gilt noch immer.

Enderlein: Schön, dass Sie so viel Vertrauen haben. Auf dem Reißbrett wäre es für Griechenland vielleicht gar nicht so schlecht, heute in einer Nacht- und Nebelaktion die Drachme wieder einzuführen und bei null anzufangen. Aber in der Realität würde es anders laufen. Das griechische Parlament müsste darüber entscheiden; es würde lange debattiert. Derweil setzte eine Kapitalflucht aus Griechenland und Europa ein, mit unabsehbaren Folgen. Mir ist das Risiko eines solchen Experiments zu groß. Wir sollten jetzt lieber einen funktionierenden Euro-Raum bauen.

SPIEGEL: Ist die von Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vorgeschlagene gemeinsame Wirtschaftsregierung ein Schritt dahin?

Enderlein: Ja, aber ein kleiner. Wir brauchen eine neue Dimension der europäischen Integration. Dazu gehört eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und ein europäischer Finanzminister, der dafür sorgt, dass finanz- und steuerpolitisch nicht mehr jedes Land machen kann, was es möchte. Ich will keine Vereinheitlichung, aber Mindeststandards etwa bei den Steuern oder beim Renteneintrittsalter. Es kann nicht sein, dass ein Land mit einem absurd niedrigen Körperschaftsteuersatz wie Irland Gelder vom Rest Europas bekommt.

Sinn: Einverstanden. Auch die Verankerung der Schuldenbremse in Europa, die Merkel vorschlägt, ist gut. Wichtiger wäre es aber, eine Insolvenzordnung für Staaten zu schaffen.

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?

Sinn: Wir helfen den Krisenländern, Schritt für Schritt, in begrenztem Umfang und immer nur dann, wenn zunächst auch die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Grundsätzlich müssen die Länder lernen, ohne unsere Kredite zu leben. Der deutsche Steuerzahler kann nicht den Lebensstandard der Menschen dort dauerhaft absichern.

Enderlein: Mein Gefühl ist, Herr Sinn, dass Sie ökonomisch zu national denken. Wir leben in einer Welt, in der Regionen und Währungsräume so stark verflochten sind, dass Probleme in Nachbarländern auch unsere Probleme sind. Das verpflichtet uns, eine gesamteuropäische Lösung zu finden.

Sinn: Nach den bisherigen Beschlüssen haftet Deutschland bereits für knapp 400 Milliarden Euro. Und jetzt stehen weitere 3,1 Billionen Euro im Raum, für die wir gesamtschuldnerisch haften sollen. Irgendwann ist auch die deutsche Kraft erschöpft. Es geht um die Existenz unseres Staatswesens. Das sollten Sie nicht vergessen.

Enderlein: Es geht um Europas Existenz.

SPIEGEL: Herr Enderlein, Herr Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

(*) In Enderleins Berliner Büro. Sinn, der sich derzeit in den USA aufhält, schaltete sich über die Telefon-Software Skype per Computer zu. Das Gespräch moderierte der SPIEGEL-Redakteur Alexander Neubacher.