"Wachstum bei Null"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.05.2003, 13

Fragen an Hans-Werner Sinn

Stürzt Deutschland jetzt in die Rezession?

Das kann man nicht mehr ausschließen. Die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes implizieren rechnerisch eine Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts von 0,9 Prozent, auf Jahresbasis hochgerechnet. Aber Vorsicht: Das ist keine Prognose, denn die Zahlen im nächsten Quartal können schon wieder ganz anders sein, und die alten Zahlen werden auch regelmäßig wieder revidiert.

Kann die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr überhaupt noch wachsen?

Sicherlich. Das erste Quartal lag um 0,5 Prozent über dem Vorjahresergebnis des ersten Quartals. Wenn die Wirtschaft jetzt nicht weiter schrumpft, wird die durchschnittliche Wachstumsrate für dieses Jahr bei Null liegen. Eine leichte Zunahme des Sozialprodukts im dritten und vierten Quartal ist ebenfalls noch möglich.

Was bedeuten die neuen Zahlen für den Arbeitsmarkt?

Auch nach den bisherigen Informationen war davon auszugehen, daß die Arbeitslosigkeit saisonbereinigt bis zum ersten Quartal des nächsten Jahres steigt. Die Aussichten sind jetzt noch düsterer geworden. Die Reise geht in den Bereich von mehr als 4,5 Millionen Arbeitslosen im Durchschnitt dieses Jahres.

Die neue Steuerschätzung beruht auf der Regierungsprognose von 0,75 Prozent Wachstum. Drohen angesichts der veränderten Wachstumsaussichten schon wieder neue Haushaltslöcher?

Sicherlich. Wenn das Wachstum um einen Prozentpunkt niedriger ausfallen sollte als von der Regierung geschätzt, dann wäre die Defizitquote, die ohnehin schon deutlich über der Maastricht-Grenze von 3 Prozent liegen dürfte, um etwa 0,3 Prozentpunkte höher.

Was sollte der Finanzminister tun?

Er sollte den Gürtel enger schnallen und jetzt endlich die Kürzungen bei den Subventionen und im Sozialetat vornehmen, die für die langfristige Gesundung unseres Landes nötig sind. Im Boom kann Deutschland die erforderlichen strukturellen Reformen nie schaffen. Jetzt ist die Zeit des Handelns gekommen. Jedwede Steuererhöhungen sind abzulehnen, weil sie fatale Signale senden und das Schiff weiter in die falsche Richtung lenken.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts in München.
Die Fragen stellte Werner Mussler.

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