"Würden Sie jetzt Aktien kaufen?"

Interview mit Hans-Werner Sinn und Norbert Walter, Capital, 02.10.2002, 10

STREITGESPRÄCH

Professor Hans-Werner Sinn (l.), der Präsident des Ifo-Instituts, sieht an der Börse "irrationalen Pessimismus".
Professor Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, sieht die Kurse "weiter abstürzen".

Sinn: Ja, ich habe gerade Aktien gekauft. So günstig kommt man da nicht mehr ran.

Walter: Ich habe auch geordert - aber im Bewusstsein, wohl zu früh wieder eingestiegen zu sein. Ich hatte 2001 fast alles abgestoßen. Nun gehe ich vorsichtig wieder rein, in Portionen von drei Prozent meiner flüssigen Mittel. Wer mit vielen Aktien in die Baisse gerauscht ist, sollte noch nicht zukaufen. Die Börse kann auch nach unten übertreiben. Da kann man noch richtig Geld verlieren.

Sinn: Die Börse untertreibt doch schon nach unten. Wenn der Dax um die 3000 Punkte liegt, zeigt das irrationalen Pessimismus. Der Dax schlägt immer viel stärker aus als der Dow - vor zwei Jahren gewaltig nach oben, jetzt nach unten. Die Deutschen haben eben nicht so viel Erfahrung mit Aktien wie die Amerikaner. Ich bleibe dabei: Die Chance, mit Dax-Papieren Geld zu verdienen, war seit .Jahren nicht mehr so gut.

Walter: Ihr Optimismus in Ehren - die Kurse können noch weiter abstürzen. Der Dax rutscht gerade erst in die Nähe eines realistischen Niveaus, wenn man von den aktuellen Gewinnperspektiven der Unternehmen ausgeht. Der Dow müsste nach dieser Betrachtung, um ein längerfristiges Gleichgewicht zu erreichen, auf rund 6500 Punkte fallen.

Sinn: Das kann sein, wahrscheinlicher ist aber auf Sicht eines Jahres ein Kursanstieg. Zugegeben, in Deutschland ist die Lage zur Zeit ziemlich mies. Aber die Weltwirtschaft befindet sich immer noch in einem leichten Aufschwung.

Walter: Einspruch. Sie steckt im Abschwung. Die Kapazitätsauslastung sinkt, und die Arbeitslosigkeit steigt. Zudem haben wir in einer Reihe von sehr gewichtigen Ländern dramatische Probleme: in Japan, in Deutschland, aber auch in wichtigen Schwellenländern wie Brasilien - mit Rückwirkungen auch auf Nordamerika. Ich rechne für die Weltwirtschaft frühestens Ende 2003 mit einer Trendwende. Und selbst die ist nicht sicher.

Sinn: In Japan sehe auch ich kein Licht am Ende des Tunnels, und Deutschland hat bedrohliche Strukturprobleme. Aber die Weltkonjunktur wird in Nordamerika gemacht. Dort hat die Konjunktur vom zweiten zum dritten Vierteljahr 2002 wieder angezogen - wie unser World Economic Survey zeigt, für den wir quartalsweise 1000Experten in 90 Ländern befragen. Auch weltweit hat sich die Lage verbessert und nicht etwa verschlechtert. Fallen wir nicht von einem Extrem ins andere. Dass wir eine große Depression bekommen, eine Weltwirtschaftskrise wie Ende der 20er Jahre, damit rechne ich nicht.

Walter: Um sie auszuschließen, sind die Probleme zu gewichtig. Ich behaupte ja nicht, dass die Weltwirtschaftskrise unausweichlich sei. Aber ich schätze das Risiko einer globalen Deflationsspirale, in der sich die Preise und die reale Produktion gegenseitig nach unten ziehen, auf 30 Prozent. Daher ist es angezeigt, dass Politik und Notenbanken jetzt entschlossen gegensteuern.

Sinn: Ich sehe keinen Anlass für ein globales Konjunkturprogramm. Aber die Europäische Zentralbank sollte jetzt die Leitzinsen senken, da ist noch eine Menge Luft nach unten. Die Zentralbank hat noch mehr konjunkturpolitische Verantwortung als früher die Deutsche Bundesbank - denn die zweite Möglichkeit der Konjunkturbelebung, vorübergehend höhere Staatsausgaben, ist ja durch die strengen EU-Schuldenregeln blockiert.

Walter: Ja, Deutschland hat sowohl die Geld- wie auch die Fiskalpolitik aus der Hand gegeben. Aber für jene, die jetzt am EU-Stabilitätspakt dem Buchstaben nach festhalten, könnte es noch schlimmer kommen. Ist man erst in der Deflation, nützen Geld- und Fiskalpolitik gar nichts mehr.