Die Rezepte liegen auf dem Tisch

Interview mit Hans-Werner Sinn, Märkische Allgemeine, 20.06.2002, 4

Ifo-Chef Sinn fordert Reform-Mut

In der CDU/CSU ist ein Streit über das notwendige Reformtempo nach einem eventuellen Regierungswechsel entbrannt. Wieviel - zum Teil schmerzhafte - Veränderungen kann man den Menschen zumuten? Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, fordert mehr Reform-Mut. Mit ihm sprach Henry Lohmar.

Vor der Bundestagswahl kündigen die Parteien strukturelle Reformen an. Alles nur Wahlkampfgeklapper?

Sinn: Ich hoffe nicht. Inzwischen scheint sich auch bei den Politikern herumgesprochen zu haben, dass wir chronische Wachstums- und Beschäftigungsprobleme haben. Das war vor der letzten Bundestagswahl anders. Niemand wollt Grausamkeiten ankündigen. Die rot-grüne Bundesregierung hat gehofft, dass sich die Probleme angesichts des Booms der Weltwirtschaft bis zum Jahr 2000 von selbst lösen. Inzwischen ist aber klar, dass wir unabhängig von der Konjunkturlage beim Wachstum das Schlusslicht in Europa bleiben.

Welche Punkte dürften in keinem Reformprogramm fehlen?

Sinn: Die Schaffung eines Niedriglohnsektors; Öffnungsklauseln für Tarifverträge; eine Lockerung des Kündigungsschutzes; eine Rentenreform, die die Riester-Rente verpflichtend macht; eine weit gehende Privatisierung der Krankenkassen.

Das klingt nach sozialen Grausamkeiten. Wer soll mit einem solchen Programm gewählt werden?

Sinn: Ich glaube, die meisten Menschen ließen sich überzeugen, wenn man sie informieren würde. Dazu braucht man freilich mutige Politiker, die die Wahrheit sagen. Und die lautet nun mal: So wie bisher geht es nicht weiter. Sie lautet aber auch: Der Aufschwung ist machbar, die Rezepte liegen auf dem Tisch, sie sind theoretisch durchdacht und empirisch abgesichert.

Aber die Menschen wollen möglichst schnelle Erfolge sehen.

Sinn: Auch das muss man den Leuten sagen: Strukturreformen wirken nicht von heute auf morgen. Margaret Thatcher hat in Großbritannien in den achtziger Jahren Verkrustungen abgebaut, die seit dem Krieg entstanden waren. Die Erfolge wurden zehn Jahre später sichtbar.

Was muss sich in Ostdeutschland tun?

Sinn: Ja. Die Gewerkschaften achten darauf, dass die Menschen am Ende deutlich mehr in der Tasche haben als wenn sie von Sozialhilfe leben müssten. Wenn die Summe aus Lohn und Lohnsubvention groß genug ist, dann werden sie auch deutlich niedrigere Bruttolöhne akzeptieren.Das Thema Niedriglohnsektor und Sozialhilfe ist hier besonders wichtig. Der Abstand zwischen durchschnittlichem Nettolohn und dem Sozialhilfeniveau ist einfach viel zu klein. Dadurch entsteht eine allgemeine Lethargie, so macht man sich gegenseitig die Jobs kaputt.

Was ist die Alternative?

Sinn: Das Geld, das der Staat für die sozial Schwachen zur Verfügung stellt, sollte als Lohnkostenzuschuss ausgezahlt werden. Dann würde sich ein Niedriglohnsektor ergeben. Die Menschen würden zwar zu Hungerlöhnen arbeiten, aber sie hätten Arbeit und gemeinsam mit dem staatlichen Zuschüssen mehr Geld in der Tasche als sie heute von der Sozialhilfe bekommen.

Das amerikanische Modell...

Sinn: Man kann von den Amerikanern einiges lernen, ohne gleich alle ihre Standards zu übernehmen. Es geht um das amerikanische Anreizsystem. Das ist auch mit den deutschen Wertvorstellungen vereinbar.

Glauben Sie, dass die Gewerkschaften dabei mitmachen?

Sinn: Ja. Die Gewerkschaften achten darauf, dass die Menschen am Ende deutlich mehr in der Tasche haben als wenn sie von Sozialhilfe leben müssten. Wenn die Summe aus Lohn und Lohnsubvention groß genug ist, dann werden sie auch deutlich niedrigere Bruttolöhne akzeptieren.

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