"Die Angst erklärt sich aus der Grösse des möglichen Schadens"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanz und Wirtschaft, 11.12.2002, 32

Professor Hans-Werner Sinn, Leiter des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, über die Deflationsgefahr in Deutschland

Deutschland sieht schwarz. Das Land läuft zusehends Gefahr, an der Trübsal Gefallen zu finden und darüber die Zuversicht und den Mut zu Änderungen zu verlieren. Seit neuestem geht das Deflationsgespenst um. In einem Umfeld fallender Preise neigen Konsumenten und Unternehmer dazu, ihre Ausgaben immer weiter in die Zukunft zu verschieben - ein Verhalten, das für eine Volkswirtschaft schwerwiegende Folgen hat. Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, hält die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland in eine Deflation läuft, für gering, hält die Gefahr aber durchaus für real, wie er im Gespräch mit der «Finanz und Wirtschaft» erklärt.

Herr Sinn, die Inflation, ist niedrig. In Deutschland geht sogar die Angst vor einer Deflation um. Ist sie berechtigt?

Ja, denn Japan hat gezeigt, welch riesiges Fiasko sie für die Volkswirtschaft bedeuten würde. Deutschland hat eine Inflationsrate von knapp über 1%. Wären es 2 oder 3%, wäre mir wohler.

Sehen Sie die unausweichliche Gefahr einer Deflation für Deutschland?

Nein, keinesfalls Dass die Gefahr existiert, heisst nicht, dass sie auch wahrscheinlich ist. Die Angst erklärt sich aus der Grösse des möglichen Schadens, nicht aus der Höhe der Wahrscheinlichkeit, dass der Schadenfall eintritt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass wir an der Deflation vorbeischrammen. Aber wir müssen aufpassen.

Wodurch manifestiert sich denn die Deflationsgefahr in der Bundesrepublik?

Wir haben in Deutschland insofern eine Problemlage, als die Europäische Zentralbank ein Inflationsziel von 2% verfolgt. Die Euro-Länder inflationieren nicht alle in gleicher Höhe. Sie werden auch noch für längere Zeit unterschiedliche Teuerungsraten haben, weil die Preisniveaus noch unterschiedlich sind. Der Durchschnittswert, den die EZB für Europa anstrebt, könnte für uns zu niedrig sein.

Sie haben gesagt, Sie hätten lieber eine höhere Inflationsrate. Das müssen Sie erklären.

Nehmen Sie zum Beispiel Irland. Irland war bis vor kurzem noch wirtschaftlich rückständig; die Löhne waren tief. Nun befindet sich das Land in einer Phase rapiden Produktivitäts- und Lohnwachstums. Dieses Lohnwachstum überträgt sich in die Preise der lokalen Dienstleistungen - Baukosten und Mieten - und somit auf den Preisindex. Der irische Index steigt etwa 2,5 Prozentpunkte schneller als der Durchschnitt der Preisindizes der Euroländer insgesamt. Anders der Fall Deutschland: Wegen des geringen Wachstums liegen wir auch bei der Inflation strukturell etwa einen Prozentpunkt unter dem europäischen Mittel. Wird das europäische Inflationsziel in Höhe von 2% tatsächlich erreicht, dann haben wir in Deutschland nur noch 1% Teuerung. Damit könnten wir schon den Deflationsbereich tangieren, denn 1% liegt innerhalb der Fehlermarge.

Die japanische Notenbank hat die Inflation noch engagiert bekämpft, als die Deflation bereits vorhanden war. Was macht es so schwierig, die Deflation rechtzeitig zu erkennen?

Bis die Preise reagieren, vergeht einige Zeit, und dem geht eine deflatorische Nachfragelücke voraus.

Wann haben wir es mit einer deflatorischen Nachfragelücke zu tun?

Wenn sich ein Sparüberhang über die Investitionen ergibt. In Deutschland beträgt der Sparüberhang etwa 5%: in Japan sind es rund 8%. Japan fängt den Überhang durch die immense Staatsverschuldung auf - was die Privathaushalte in Japan zu wenig nachfragen, sucht der Staat durch seine Nachfrage auszugleichen. Das funktioniert kurzfristig. Langfristig steigt die Staatsschuld, und die Probleme werden noch grösser, weil eine Staatskrise droht.

Wir sind in Deutschland aber noch nicht auf japanischem Niveau.

Nein, aber sollte hier der Sparüberhang grösser werden, weil sich die Investitionstätigkeit weiter verschlechtert, dann wäre das ein Warnsignal. Immerhin waren die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem jüngsten Gutachten über die Schwäche der Investitionstätigkeit hierzulande sehr überrascht und mussten den im Frühjahr abgegebenen Prognosewert für das Investitionswachstum im Gesamtjahr um einige Prozentpunkte nach unten revidieren.

Können wir sicher sein, dass die EZB für Deflationsgefahren sensibilisiert ist und den Fehler der japanischen Notenbank vermeiden wird?

Für den europäischen Durchschnitt können wir ziemlich sicher sein. Die Europäische Zentralbank wird verhindern, dass sich die durchschnittliche europäische Inflationsrate in Richtung null bewegt. Leider würde uns das nicht reichen, doch auf uns kann sie nicht hören. Wir sind nur eines von zwölf Euro-Ländern.

Es gibt also keine Kraft, die eine Deflation in Deutschland verhindert, wenn sich im europäischen Durchschnitt noch kein Preisrückgang abzeichnet?

Wir haben keine Deflation, und eine Deflation ist auch nicht wahrscheinlich. Richtig ist aber, dass Deutschland keine Geldpolitik und keine Fiskalpolitik mehr machen kann. Das ist ähnlich wie in Japan, nur der Grund ist ein anderer. Japan kann keine Geldpolitik gegen die Deflation machen, weil die Zinsen schon auf null angekommen sind, und Japan kann keine Fiskalpolitik mehr betreiben, weil die Staatsschulden schon über alle Grenzen gewachsen sind. Wir können keine Geldpolitik machen, weil es die EZB gibt, und wir können keine antizyklische Fiskalpolitik betreiben, weil der Stabilitätspakt dem entgegensteht.

Nun hat die EZB den Leitzins um 50 Basispunkte gesenkt. Reicht das, um der Wirtschaft nachhaltig Mut zu machen?

Fürs Erste ist es das, was die EZB tun kann. Aber um den deutschen Unternehmen Mut zu machen, muss die Wirtschaftspolitik ganz andere Dinge tun. Dazu müssen Sozialstaat und Arbeitsmarkt an Haupt und Gliedern reformiert werden.

Wie erklären Sie die lang währende Zurückhaltung der EZB?

Es wird zu sehr auf andere Länder geschaut, vor allem auf die kleinen Staaten. Diese sind nach dem Prinzip , gemessen an ihrem wirtschaftlichen Gewicht, zu stark im Zentralbankrat repräsentiert.

Das Problem wird sich noch wesentlich verschärfen, wenn die zehn mitteleuropäischen Länder in den Euro drängen. Ist dann das jetzige System der Stimmenverteilung im Rat noch haltbar?

Nein, die internen Entscheidungsstrukturen der EZB müssen grundlegend revidiert werden. Das doppelte einfache Mehr - die Mehrheit der Länder und die Mehrheit der dahinter stehenden Bevölkerung - wäre für Beschlüsse anzustreben, so wie es die EU-Kommission seinerzeit vergeblich für den Gipfel von Nizza vorschlug.

Einige Mitgliedstaaten reden einer Flexibilisierung der Maastricht-Kriterien das Wort, um die Konjunktur wieder anzukurbeln.

Es wäre fatal, die Kriterien bereits in Frage zu stellen, wenn sie das erste Mal greifen.

Also keine Flexibilisierung?

Nicht im Moment. Ich bin aber schon der Meinung, dass man zu gegebener Zeit den Pakt verändern sollte. Man sollte den Ländern mehr Flexibilität eröffnen, deren Schuldenquote unter 60% des Bruttoinlandprodukts liegt, um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, eine antizyklische Haushaltpolitik zu betreiben, also das Budgetdefizit auch mal über 3% auszuweiten. Länder, deren Quote 60% erreicht hat oder gar darüber liegt, sollten diesen Spielraum aber nicht erhalten.

Die Bundesregierung hat mit Streichung von Subventionen und der Erhöhung von Steuern überrascht. Wie beurteilen Sie dieses Signal im aktuellen Konjunkturumfeld?

Die Bundesrepublik kann wegen Maastricht und der EZB keine Konjunkturpolitik mehr machen. Sie sollte sich voll ganz auf die Strukturpolitik konzentrieren. Es geht um die privaten Investitionen und den Standort. Beides muss gestärkt werden. Wir sind seit Jahren Wachstumsschlusslicht in Europa. Wir haben seit dreissig Jahren eine problematische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.

Was ist zu tun?

Jetzt müssen wir die gegenwärtige Krise nutzen, um die Angebotsbedingungen zu verbessern. In einer ausgeglichenen Wirtschaftslage oder gar in einem Boom ist die Öffentlichkeit nicht bereit, schmerzhafte Reformen zu akzeptieren. Also müssen wir jetzt die Konjunktur hintanstellen und das tun, was das strukturelle Wachstum in diesem Lande stärkt. Das wäre allerdings eine Senkung der staatlichen Abgaben und nicht eine Erhöhung der Steuern.

Der jüngste Ifo-Geschäftsklimaindex ist zum sechsten Mal in Folge gefallen. Droht ein Rückfall Deutschlands in die Rezession?

Nein, denn die Ifo-Umfrage hat auch positive Entwicklungen aufgezeigt. So hat sich zum Beispiel die Lagebeurteilung der Unternehmen recht deutlich Nur die Erwartungen sind noch pessimistischer geworden. Aber nicht immer folgt die Realität den Erwartungen. Vielleicht ist es jetzt einmal umgekehrt. Das würde ich mir wünschen.

Interview: Dieter W. Heumann

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