"Was bringt die Steuerreform, Herr Sinn?"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanzen, 08.2003, 17

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn im Gespräch mit den FINANZ€N-Redakteuren Jutta Perkmann und Ulrich Lohrer.

Er gilt als einer der letzten Universal-Ökonomen in Deutschland: Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Im FINANZ€N-Gespräch prophezeit er den Konjunkturaufschwung im kommenden Herbst. Gleichzeitig warnt er vor einer drohenden Aktien- und Immobilienblase in den USA. Den Steuerreform-Plänen der Regierung steht er kritisch gegenüber.

FINANZ€N: Herr Sinn, die Bundesregierung beabsichtigt, die Steuerreform vorzuziehen und über Kredite zu finanzieren. Was bringt das für die Wirtschaft?

Hans-Werner Sinn: Das wäre eine konjunkturstimulierende Maßnahme im Sinne von Keynes, die auf dem Weg über den privaten Konsum die Nachfrage erhöht.

FINANZ€N: Um wie viel stärker würde Wirtschaft wachsen?

Sinn: Der konjunkturelle Impuls würde vermutlich 0,5 Prozent betragen. Aber die Kreditfinanzierung ist langfristig völlig falsch, weil sie den Konsum erhöht und die Ersparnis senkt. Wir brauchen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mehr Ersparnis und Investition, weniger Konsum. Maßnahmen, die Konsum fördern, verringern das Wachstum des Produktionspotenzials.

FINANZ€N: Das verstößt auch gegen den EU-Stabilitätspakt...

Sinn: Richtig. Wir dürfen um mehr als drei Prozent verschulden. Ohne die Steuerreform liegen wir voraussichtlich bei 3,2 Prozent. Mit ihr würden wir über vier Prozent liegen und den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt im dritten Jahr in Folge verletzen.

FINANZ€N: Wie sollte die Reform, die immerhin eine Entlastung von 18 Milliarden vorsieht, dann finanziert werden?

Sinn: Über Kürzungen der Staatsausgaben, auch wenn das der Konjunktur nicht förderlich ist. Deutschland hat nur ein klitzekleines Konjunkturproblem, aber ein riesiges strukturelles Problem. Eine Gegenfinanzierung ist zunächst bei den Subventionen möglich, die nach enger Definition etwa 60 Milliarden Euro, im weiteren Sinne sogar um die 150 Milliarden betragen.

FINANZ€N: Sollte nach dem Rasenmäher-Prinzip gekürzt werden?

Sinn: Nein, ich würde gezielt vorgehen. Ansetzen würde ich bei den Erhaltungssubventionen im Bereich Landwirtschaft, Steinkohle, Bergbau.

FINANZ€N: Am meisten fließt in den Wohnungsbau.

Sinn: Ja. Mit 9,5 Milliarden Euro werden im Wohnungsbau doch erhebliche Subventionen gewährt, die so nicht angemessen sind. Ich glaube, man muss auch an die Eigenheimzulage ran.

FINANZ€N: Weitere Vorschläge?

Sinn: Auch der Sozialetat ist zu umfangreich. Wenn man für das nächste und das übernächste Jahr die Rentenerhöhungen aussetzen würde, dann wäre man ein gutes Stück weiter. Und es ist auch zumutbar. Den Rentnern geht es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern außerordentlich gut. Bisher konnte man ihnen eine relativ hohe Rente zahlen, da ihre Zahl wegen der vergangenen Kriege in Relation zu den Arbeitenden gering war. Nur, die Verhältnisse beginnen sich nun zu normalisieren, und in 30 Jahren werden wir sogar ungewöhnlich viele Rentner im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung haben.

FINANZ€N: Wie groß ist das Einsparpotenzial durch die Gesundheitsreform?

Sinn: Daraus ergeben sich kaum Mittel zur Finanzierung der Steuerreform. Man muss sich damit zufrieden eben, dass die Beitragssätze nicht weiter ansteigen, indem gesetzliche Leistungen sukzessive gekürzt werden und Raum für die private freiwillige Zusatzversicherung geschaffen wird.

FINANZ€N: Ihr Institut hat für nächstes Jahr ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent prognostiziert, die Bundesregierung dagegen zwei Prozent. Haben Sie die vorgezogene Steuerreform dabei berücksichtigt?

Sinn: Ein Vorziehen der Steuerreform ist noch nicht beschlossen, und deshalb ist es auch in unserer Prognose nicht enthalten. Wird die Steuersenkung auf Kredit finanziert, liegen zwei Prozent Wachstum im Bereich des Möglichen. Aber noch einmal: Wir würden damit nur ein konjunkturelles Strohfeuer anzünden und das langfristige Wachstum schwächen.

FINANZ€N: Bisher hat der Finanzminister ein Vorziehen der Steuerreform immer wegen möglicher Haushaltsprobleme abgelehnt. Ein Verlust an Verlässlichkeit?

Sinn: In der Tat. Wir haben im Herbst wegen der von der Flut verursachten Kosten - obwohl die ja doch eher gering waren - die nächste Stufe der Steuerreform ausgesetzt. Und jetzt wollen wir die übernächste gleich wieder vorziehen. Das ist für mich keine nachvollziehbare Politik. Das Wichtigste bei der Politik ist die Glaubwürdigkeit. Man muss seine Ankündigungen befolgen und Verträge einhalten.

FINANZ€N: Auch ohne vorgezogene Steuerreform rechnen Sie mit einer Besserung. Wann wird die Wirtschaft stärker wachsen?

Sinn: Schon im Herbst und Winter könnte eine gewisse Belebung stattfinden. Eine spürbare Entlastung am Arbeitsmarkt ist aber erst im Herbst 2004 zu erwarten.

FINANZ€N: Woher kommt das Wachstum?

Sinn: Die Impulse liegen bei den Ersatzinvestitionen der Firmen und bei den Ausgaben der Haushalte für langlebige Wirtschaftsgüter. Wir sehen ganz deutlich, dass sich der private Konsum und der Einzelhandel stabilisieren. Auch zeigen unsere Umfragen bei Investoren, dass die Ausrüstungsinvestitionen in diesem Jahr durchaus wieder auf einem guten Niveau liegen.

FINANZ€N: Bremst die Euro-Aufwertung?

Sinn: Ja, die positiven Impulse aus dem Ausland werden sich dadurch bei uns kaum auswirken. Die Weltkonjunktur wird wieder anziehen, denn die Amerikaner haben ein gigantisches Nachfrageprogramm mit staatlicher Kreditaufnahme aufgelegt. Ihr Haushaltsbudget, das vor vier Jahren noch einen Überschuss von zwei Prozent aufwies, hat nun ein Defizit von vier Prozent. Diese sechs Prozentpunkte Unterschied wirken sich als enormer Stimulus auf die Wirtschaft aus.

FINANZ€N: Ergeben sich aus der hohen Staatsverschuldung der USA Risiken?

Sinn: Ja, sicherlich. Die amerikanischen Privathaushalte sparen nur gerade so viel, wie der Staat an Schulden aufnimmt. Die Unternehmen müssen sich deshalb im Ausland finanzieren, was sie derzeit mit über fünf Prozent des Sozialproduktes tun und was am Defizit in der US-Leistungsbilanz sichtbar wird. Das ist eine sehr ungesunde Entwicklung, die so nicht aufrecht erhalten werden kann. Die vielen Wertpapiere, die die Amerikaner der Welt jedes Jahr von neuem andienen, will bald keiner mehr haben, denn die Portfolios sind ohnehin schon mit US-Papieren übersättigt. Deshalb sind eine weitere Dollar-Abwertung und ein weiterer Kursverfall bei den amerikanischen Aktien zu erwarten.

FINANZ€N: Wovon gehen Sie aus?

Sinn: Von beidem. Aber der Effekt auf die Aktienkurse könnte stärker wirken. Die Aktienkurse müssen auch deshalb nachgeben, weil das Kurs/Gewinn-Verhältnis im langfristigen Durchschnitt noch immer viel zu hoch ist. Ähnliches gilt für andere Vermögensaktiva wie Immobilien. Vieles spricht dafür, dass in den USA ein Preisverfall bei Aktien und Immobilien droht.

FINANZ€N: Zurück nach Deutschland. Wie wird sich der Aufschwung hier auf die Beschäftigung auswirken?

Sinn: Es ist allenfalls ein kleines Aufschwünglein, das nicht ausreichen wird, den Arbeitsmarkt zu beleben. Im Januar erwarten wir 4,9 Millionen Arbeitslose. Eine Kehrtwende bei den saisonbereinigten Zahlen wird es erst im dritten Quartal des nächsten Jahres geben. Bis dahin wird die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit weiter steigen. Erst dann werden sich die Verhältnisse verbessern. Aber selbst wenn wir einen Superboom bekämen, würde die Arbeitslosenzahl nur um etwa 600 000 zurückgehen. Dann hätten wir immer noch vier Millionen Arbeitslose.

FINANZ€N: Warum sorgt in Deutschland das Wirtschaftswachstum nicht für mehr Beschäftigung wie in den USA?

Sinn: Das tut es ja, aber nicht genug. Die USA haben strukturell bessere Bedingungen am Arbeitsmarkt. Durch die Entwicklung des Niedriglohnsektors haben sich die Amerikaner ein hohes Maß an Lohnflexibilität geschaffen und so ihre Arbeitslosigkeit verringert und das Wachstum gestärkt.

FINANZ€N: Sie plädieren dafür, dass sich Arbeit wieder mehr lohnen soll. Welche Maßnahmen wären dafür notwendig?

Sinn: Das Ifo-Institut hat unter dem Stichwort "aktivierende Sozialpolitik" einen Vorschlag unterbreitet, der nun von einigen Bundesländern - so Hessen, Sachsen, Bayern und Schleswig-Holstein - unterstützt wird. Es läuft darauf hinaus, dass der Staat für das Nicht-Arbeiten weniger und für das Arbeiten mehr zahlt. Dafür müssten die Sozialhilfe-Eckregelsätze gesenkt und mit dem gesparten Geld Lohnzuschüsse auf geringe Marktlöhne im Niedriglohnsektor gezahlt werden. Auch würden wir die Hinzuverdienstgrenze bei der Sozialhilfe auf 400 Euro erhöhen.

FINANZ€N: Wie soll das wirken, wenn es doch an Jobs fehlt?

Sinn: Derzeit bildet die Sozialhilfe eine Lohnuntergrenze, weil man das Geld vom Staat nur bekommt, wenn man nicht arbeitet. Also will man bei der Arbeit mindestens die Sozialhilfe verdienen. Unser System beseitigt die Lohnuntergrenze, denn einerseits bekommt man weniger Geld vom Staat, wenn man nicht arbeitet, und andererseits bekommt man mehr, wenn man es tut. Dadurch kommen die Löhne im Niedriglohnsektor ins Rutschen, und es lohnt sich für Arbeitgeber, mehr Jobs zur Verfügung zu stellen. Es fehlt uns an Jobs; nicht an arbeitswilligen Menschen.

FINANZ€N: Glauben Sie, dass solche Änderungen politisch durchsetzbar sind?

Sinn: Wir müssen diese Karte spielen, aber ohne Gewerkschaften läuft da nichts.

FINANZ€N: Werden die mitspielen?

Sinn: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vollbeschäftigung als ein grundgesetzlich geschütztes Ziel erklärt. Würden sich die Gewerkschaften dagegen verweigern, müsste man ihren Spielraum einengen.