"Niedrigere Löhne schaffen mehr Stellen"

Interview mit Hans-Wener Sinn, VDI Nachrichten, 23.07.2004, S. 4

Ifo-Präsident Sinn über Konjunkturentwicklung, Arbeitszeiten und die Reformen am Arbeitsmarkt

Die Konjunkturforscher sind optimistisch. Das Wachstum dürfte in diesem Jahr ein wenig höher ausfallen als erwartet. Doch ohne entschiedene Arbeitsmarkt- und Sozialreformen wird es nicht zu einer durchgreifenden Besserung auf dem Arbeitsmarkt kommen, meint Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts.

VDI nachrichten: Herr Professor Sinn, der Ifo-Geschäftsklimaindex ist überraschend gefallen. Andererseits hat das Ifo-Institut seine Wachstumserwartungen auf 1,7 % hochkorrigiert. Wie passt das zusammen?

Sinn: Der Geschäftsklimaindex ist ein monatliches Ergebnis, und die Konjunkturprognose ist ein Halbjahresergebnis. Außerdem haben wir unsere Prognosen nicht nach oben, sondern nach unten korrigiert. Im Dezember vergangenen Jahres lagen wir bei 1,8 Prozent.

VDI nachrichten: Die Gemeinschaftsdiagnose, an der Ifo ja beteiligt ist, weist aber 1,5 Prozent aus.

Sinn: Das ist richtig. Aber die Gemeinschaftsdiagnose ist ein Kompromiss zwischen verschiedenen Instituten.

VDI nachrichten: Auch 1,7 % Wachstum reichen kaum aus, um das Land von seinen wirtschaftlichen Leiden zu befreien. Haben wir 2005 mehr zu erwarten?

Sinn: Wir erwarten derzeit für das kommende Jahr ebenfalls ein Wachstum von 1,7 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anstieg gegenüber diesem Jahr größer ist, als es zunächst scheint, weil in diesem Jahr allein die größere Zahl an Arbeitstagen 0,5 Prozentpunkte beiträgt.

VDI nachrichten: Der Export boomt. Doch die deutsche Wirtschaft insgesamt bleibt schwach. Wann kommt die Binnenwirtschaft in Schwung?

Sinn: Vorläufig leider nicht. Wir sind wegen unserer inneren Probleme ziemlich abgekoppelt. Die Menschen sind durch die wachsende Arbeitslosigkeit ziemlich verunsichert. Und das Arbeitsplatzrisiko veranlasst sie zur Vorsicht bei ihren Ausgaben. Es fehlt an Vertrauen in die Zukunft.

VDI nachrichten: Nun soll ja die Agenda 2010 der Binnenwirtschaft durch Strukturreformen wieder zu mehr Wachstum verhelfen. Glauben Sie an einen Erfolg?

Sinn: Ja, aber nicht in diesem Aufschwung. Das dauert länger. Die strukturellen Verbesserungen wirken langsam, dafür aber nachhaltig. So wird die Kürzung der Arbeitslosenhilfe die Arbeitslosen veranlassen, ihre Lohnansprüche zu senken, und zu niedrigeren Löhnen werden mehr Stellen geschaffen. .Wir rechnen dadurch mittelfristig mit bis zu 300 000 neuen Arbeitsplätzen. Die Agenda 2010 hat gute Elemente, sie hat aber auch Kritikwürdiges. Sollte es nur bei den beabsichtigten und zum Teil schon in Angriff genommenen Reformen bleiben, dann wird sich das deutsche Siechtum nur ein bisschen abmildern.

VDI nachrichten: Unabhängig von Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung versuchen derzeit viele Firmen, längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn durchzusetzen. Macht eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden die Arbeitsplätze in Deutschland international konkurrenzfähiger?

Sinn: Ja, denn das bedeutet eine 5%ige Reduzierung der Lohnkosten pro Stunde. Ferner entsteht auch ein Wachstumsschwung, der die Nachfrage erhöht.

VDI nachrichten: Werden durch die Erhöhung der Arbeitszeit eher bestehende Arbeitsplätze gesichert oder auch neue geschaffen?

Sinn: Das weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, wie sich der weltweite Wettbewerb über die nächsten Jahre verändern wird. Wenn die äußeren Verhältnisse so blieben wie sie sind, könnten wir nach etwa einem Jahrzehnt mit einer Halbierung der Arbeitslosenquote rechnen. Wenn auf breiter Front die Arbeitszeit auf 42 Wochenstunden ohne Lohnausgleich erhöht wird, würde die Arbeitslosigkeit unter sonst gleichen Bedingungen sogar weitgehend verschwinden. Leider bleiben die Bedingungen aber nicht so, wie sie sind. Ich befürchte, dass die notwendigen Anpassungen viel größer sein werden, weil der Wind des Wettbewerbs immer stärker wird. Wir werden vermutlich zusätzlich auf die gewohnten Lohnsteigerungen verzichten müssen.

VDI nachrichten: In den letzten Tagen ist bei DaimlerChrysler ein heftiger Kampf zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen ausgebrochen. Verstehen Sie die Position des Daimler-Vorstands?

Sinn: Jeder versteht sie. Nur einige tun so, als verstünden sie sie nicht. Mercedes macht zu wenig Gewinn. Die Kurse dümpeln dahin, denn die Eigenkapitalrendite deckt nicht mehr die Ansprüche des Kapitalmarktes. Es fällt Mercedes schwer, auf den Märkten das Eigenkapital für die dringend nötigen Investitionen zu erhalten. Andere Wettbewerber, die in Ländern mit niedrigeren Löhnen arbeiten, expandieren schneller.

VDI nachrichten: Nun fordert die Wirtschaft ja nicht geschlossen längere Arbeitszeiten. Einige Unternehmen lassen auch kürzer arbeiten. Wie passt das zusammen?

Sinn: Die Arbeitzeitverkürzung ist die Folge der Hochlohnpolitik vergangener Jahrzehnte. Es geht dabei nur darum, die Vernichtung von Arbeitplätzen gleichmäßig umzulegen. Das führt zu gar nichts. Wir müssen mehr arbeiten, weil das Sozialprodukt dann wächst und weil niedrigere Stundenlöhne außerdem mehr Arbeitsplätze entstehen lassen oder zumindest den Abbau verlangsamen.

VDI nachrichten: Brauchen wir nicht eigentlich mehr Flexibilität - entsprechend der Auftragslage?

Sinn: Das Flexibilitätsargument klingt gut, ich halte es aber für wenig zielführend. Es kommt im Gegenteil darauf an, dass die Arbeitzeiten auf breiter Front erweitert werden, damit die Ausweitung der Arbeitszeit der einzelnen Firma auf eine zusätzliche Nachfrage nach ihren Produkten trifft. Eine Firma, die länger arbeiten lässt, produziert mehr und fragt zugleich mehr Leistungen und Produkte anderer Firmen nach. Jeder Verkaufserlös wird ja anderswo Nachfrage. Nur wenn die Arbeitszeit im Gleichschritt ausgeweitet wird, haben alle die zusätzliche Nachfrage, die sie brauchen, um ihre Mehrproduktion auch abzusetzen. Prescht jemand bei der Arbeitszeitverlängerung vor, so läuft er Gefahr, wegen des fehlenden Absatzes die Stellenzahl verringern zu müssen.

VDI nachrichten: Der amerikanische Wachstumsforscher Robert Solow nennt die deutsche Umsetzung von Reformen "unnötig schmerzvoll" und rät zu flankierender expansiver Geld- und Finanzpolitik.

Sinn: Eine expansivere Geldpolitik wäre gut. Auch ich habe die EZB wegen ihrer restriktiven Haltung kritisiert. Aber die EZB ist nicht nur für Deutschland da. Die kleinen Länder, die viel zu viel in Europa zu sagen haben, wollen eine restriktivere Geldpolitik als wir, weil sie durch den Euro ohnehin traumhaft niedrige Zinsen bekommen haben.

VDI nachrichten: Und Solows Forderung nach expansiver Finanzpolitik?

Sinn: Das geht ja bei uns nicht mehr, weil wir unser Pulver in guten Zeiten verschossen haben. Das Defizit liegt schon über der erlaubten Drei-Prozent-Grenze. Die fehlende Haushaltsdisziplin im letzten Boom müssen wir jetzt bitter bezahlen. Wir können auch schon deshalb nicht mehr Schulden machen, weil wir die Lasten späterer Generationen durch unser Rentensystem ohnehin schon über Gebühr vergrößert haben.

VDI nachrichten: Aber würde eine günstigere wirtschaftliche Situation nicht die Durchsetzung von Reformen erleichtern?

Sinn: Theoretisch ja, praktisch nein. Nur aus dem Leidensdruck heraus haben Reformen Chancen. Bei einem ausreichenden Wirtschaftswachstum erlischt der Reformwille sofort.

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