"Letzte Chance 2006"

Interview mit Hans-Werner Sinn, FOCUS MONEY, 08.07.2004, S. 66-67

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über die 40-Stunden-Woche und notwendige Strukturreformen in Deutschland

Focus-Money: Derzeit tobt ein erbitterter Streit um die Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Die Gewerkschaften behaupten, man müsse die wenige Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Die Unternehmen entgegnen, dass sie eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich brauchen, damit sie die deutschen Arbeitsplätze erhalten können. Wer hat Recht?

Hans-Werner Sinn: Die Unternehmen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens können Betriebe, die sonst in Niedriglohnländer verlagert würden, gehalten werden. Zweitens wirkt die Arbeitszeitverlängerung wie ein großer Produktivitätsschub für die Arbeit und das Kapital. Dieser erhöht das Volkseinkommen und bereitet damit die Basis für die Finanzierung zusätzlicher Investitionen, die neue Arbeitsplätze schaffen. Da die Lohnkosten je Stunde fallen, werden sogar besonders viele Arbeitsplätze geschaffen.

Money: Wo soll die Nachfrage für die zusätzliche Produktion herkommen? Wenn die nicht steigt, wird der Produktivitätsgewinn in Entlassungen umgemünzt.

Sinn: Klar, aber die Nachfrage steigt mit der Produktion. Mehr Produktion bedeutet mehr Wertschöpfung und damit mehr Einkommen und Nachfrage. Im konkreten Fall steigen die Gewinne der Unternehmen im Umfang des Wertes der zusätzlich produzierten Waren und Dienstleistungen. Die Kaufkraft für den Erwerb der Mehrproduktion wird also automatisch geschaffen.

Money: Aber der einzelne Betrieb wird doch trotzdem Mitarbeiter entlassen?

Sinn: Den Kaufkraftzuwachs kann man bei einer einzelwirtschaftlichen Betrachtung vernachlässigen, denn er richtet sich auf die Produkte anderer Unternehmen. Insofern kann es tatsächlich sein, dass die Beschäftigung desjenigen Unternehmens fällt, das die Arbeitszeit verlängert, wenn die anderen Unternehmen nicht folgen. Doch wenn alle Unternehmen die Arbeitszeit verlängern und mehr produzieren, ist das völlig anders. Dann kommt dem einzelnen Unternehmen die Mehrnachfrage der anderen Unternehmen zugute, und die ist im Durchschnitt genauso groß wie die eigene Mehrproduktion. Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht nur allgemein von einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten reden, weil das so gut klingt, sondern dass jetzt wirklich eine Massenbewegung zur Ausweitung der Arbeitszeiten zu Stande kommt. Das ist der kleine Unterschied zwischen einer betriebs- und einer volkswirtschaftlichen Sicht der Dinge.

Money: Um wie viel sollte die Arbeitszeit verlängert werden?

Sinn: Als grobe Faustregel gilt: Eine Lohnzurückhaltung von einem Prozent gegenüber einem anderen Land bedeutet langfristig einen Beschäftigungszuwachs von einem Prozent gegenüber diesem Land. Um beispielsweise den Kostennachteil gegenüber Holland zu beseitigen, der sich seit 1982 aufgebaut hat, müssten wir die Lohnkosten pro Stunde um 13 Prozent senken. Das ist schon erheblich. Wir müssten nämlich die Arbeitszeit von durchschnittlich 38 auf 44 Stunden steigern. Fürs Erste würde ich mit 42 Stunden beginnen. Das wäre etwa so viel, wie die Italiener heute arbeiten. Bekanntlich ist das mit dem Dolce Vita noch kompatibel.

Money: Was hat uns Holland voraus?

Sinn: 1982 wurde dort zwischen den Tarifpartnern und der Regierung das so genannte Wassenaar-Abkommen einer langfristigen Lohnzurückhaltung geschlossen. Während in Holland die Industriearbeiterlöhne in 20 Jahren nur um 20 Prozent zulegten, stiegen sie in Deutschland um 38 Prozent. Ergebnis: Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen in den Niederlanden stieg um ein Viertel, das deutsche stagnierte; es war 2002 exakt so groß wie 1992. In den USA waren die Effekte noch stärker. Dort gelang es problemlos, 18 Millionen Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und trotzdem fiel die Arbeitslosigkeit.

Money: Führen nicht vor allem teure Sozialabgaben zu hohen Lohnkosten?

Sinn: Ja und nein. Sie sind natürlich hoch, aber das waren sie schon lange. Die Lohnnebenkosten sind zwar ein wenig schneller gestiegen als die Bruttolöhne, aber nicht viel. Die Direktentgelte stiegen in den betrachteten 20 Jahren insgesamt nur um zwei Prozentpunkte weniger als die Lohnkosten. Das Problem sind die Tariflöhne selbst.

Money: Verfechter höherer Löhne wenden ein, man müsse die Lohnkosten je Stück betrachten und nicht die Lohnkosten je Stunde. Bei diesem Vergleich stehe Deutschland gar nicht so schlecht da, weil die deutsche Produktivität so hoch sei.

Sinn: Das ist ein Denkfehler, den ich als Dr.-Fritzchen-Müller-Problem bezeichne. Der Doktor weiß etwas mehr als Lieschen Müller, denkt die Dinge aber nicht zu Ende. Zunächst klingt der Einwand plausibel. Doch die hohe Produktivität ist die Produktivität jener, die die Hochlohnpolitik überlebt haben. Diejenigen, die auf Grund der hohen Lohnkosten Pleite gingen, zählen dabei nicht mit. Die Hochlohnpolitik rechnet sich scheinbar selbst, indem die schwächeren Betriebe aus der Statistik eliminiert werden. Um den Denkfehler zu vermeiden, müssen die Arbeitslosen bei der Messung der Produktivität mit einem Wert von null einbezogen werden. Dann sind wir leider kein Land mehr, das durch eine besonders hohe Produktivität glänzen kann.

Money: Für die Lohnhöhe sind die Tarifpartner verantwortlich. Die Gewerkschaften leugnen zwar den Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit. Diese fundamentale Gesetzmäßigkeit wird aber von allen ernst zu nehmenden Ökonomen konstatiert. Lügen Gewerkschafter oder sind sie dumm?

Sinn: Sie können nicht anders. Die Arbeitslosigkeit ist praktisch ihr Erfolgsausweis.

Money: Wie bitte?

Sinn: Die Gewerkschaften sind ein Kartell derjenigen, die Arbeit haben. Und wie jedes Kartell dient es dazu, überhöhte Preise durchzusetzen. Würden sich die Löhne frei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bilden, gäbe es keine Arbeitslosigkeit. Es stellt sich im Gleichgewicht eine bestimmte Lohnhöhe ein, die den Markt räumt. Das Kartell dient dazu, einen höheren als den Gleichgewichtspreis durchzusetzen. Ist der Lohn höher, werden Arbeitskräfte, deren Beschäftigung sich für den Unternehmer nicht mehr lohnt, entlassen oder gar nicht erst eingestellt. Es entsteht Arbeitslosigkeit. An der Zahl der Arbeitslosen kann der Gewerkschafter ablesen, dass der Preis für Arbeit, den er durchgesetzt hat, höher war als derjenige, der sich ohne sein Zutun ergeben hätte. So gesehen ist jeder Arbeitslose mehr ein Orden mehr an der Brust des Gewerkschafters.

Money: Was also tun?

Sinn: Es gibt nur einen einzigen Weg: Die Macht der Gewerkschaften muss gebrochen werden. Die Tarifpartner sollten per Gesetz verpflichtet werden, in ihren Tarifverträgen wirksame Öffnungsklauseln vorzusehen, die es der Belegschaft eines Betriebs ermöglichen, freiwillig vom Flächentarifvertrag abzuweichen. Im Endeffekt würde das die Tarifautonomie stärken, weil die Belegschaften vor Ort mehr Mitspracherechte hätten.

Money: Wäre es nicht sinnvoller, den Kündigungsschutz zu streichen?

Sinn: In der Tat ist der gesetzliche Kündigungsschutz eine der wirksamsten Waffen der Gewerkschaften im Tarifpoker. Er zwingt die privaten Unternehmen, die Arbeitsleistung dann noch zu kaufen, wenn sie ihnen zu teuer geworden ist. Das Perverse daran: Der Kündigungsschutz hat keine sicheren Arbeitsplätze geschaffen, ganz im Gegenteil. Wer heute gekündigt wird, weiß nicht, ob er schnell einen neuen Arbeitsplatz findet. Das Risiko, jemanden einzustellen, ist vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen viel zu hoch.

Money: Politisch kaum durchsetzbar ...

Sinn: Richtig, dafür braucht es Mut. Die Dänen hatten diesen Mut 1993. Sie schafften den Kündigungsschutz ab, was zunächst in gewissem Umfang zu Arbeitslosigkeit führte. Danach folgte ein beispielloses Jobwunder. Die Arbeitslosenquote sank in zehn Jahren von 9,6 auf 5,5 Prozent, während sie in Deutschland sehr deutlich zunahm. Heute muss kein Däne mehr fürchten, keinen neuen Arbeitsplatz mehr zu bekommen, wenn er seinen alten verliert.

Money: Aber jetzt beschleunigen mehr Arbeitslose das Problem doch?

Sinn: Richtig, eine solche Maßnahme sollte im Aufschwung getroffen werden. Leider ist dann zu befürchten, dass davon niemand mehr etwas wissen will, weil die Arbeitslosigkeit ohnehin sinkt. Aber 85 Prozent unserer Arbeitslosigkeit sind strukturell bedingt, nicht konjunkturell.

Money: Es bleibt aber das Problem, dass bei freier Lohnfindung viele zu wenig zum Überleben verdienen würden.

Sinn: Deshalb hat ja das Ifo-Institut das Modell der aktivierenden Sozialhilfe entwickelt, das immer breitere Zustimmung bei den Ländern findet. Wer zu wenig verdient, bekommt einen Zuschuss vom Staat.

Money: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck fordert Mindestlöhne.

Sinn: Mindestlöhne produzieren Arbeitslosigkeit, weil sie einen höheren Preis für Arbeit verlangen, als am Markt zu erzielen ist. Es ist aberwitzig, genau jetzt so etwas zu fordern. Dann wird die Massenarbeitslosigkeit der gering Qualifizierten zementiert. Davon abgesehen haben wir de facto Mindestlöhne in Form der Sozialleistungen - das Hauptproblem in Ostdeutschland. Niemand kann erwarten, dass jemand für einen Lohn arbeitet, den er auch für Nichtstun bekommt. Auch das Problem löst die aktivierende Sozialhilfe. Das meiste Geld fließt nicht mehr, wenn man nicht arbeitet, sondern wenn man mindestens einen Halbtagsjob im Niedriglohnsektor annimmt.

Money: Sie fordern das Zurückfahren staatlicher Leistungen. In wenigen Jahren sind die Empfänger staatlicher Zuwendungen in der Mehrheit. Wie soll es dann dafür noch politische Mehrheiten geben?

Sinn: Deshalb bietet sich nach der Wahl 2006 vielleicht die letzte Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen. Sonst wird Deutschland einem schleichenden Siechtum verfallen.

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