Bittere Wahrheiten ohne Beruhigungspillen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 21.01.2005, S. 17

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn sieht Lohnpolitik als Königsweg aus der Krise

Zur Person

Stimme mit Gewicht

Er gehört zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Seine zumeist sehr deutlichen Meinungen und Vorschläge sorgten und sorgen immer wieder für Gesprächsstoff: Professor Dr. Hans-Werner Sinn.
1948 im westfälischen Brake geboren, machte Sinn 1967 sein Abitur in Bielefeld und studierte anschließend. Dem Titel "Diplom-Volkswirt" 1972 und der Promotion 1978 folgte dann die Habilitation 1983 in Mannheim. Seit 1984 hat Professor Dr. Sinn den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Immer wieder zog es ihn zu Forschungsaufenthalten ins Ausland, etwa USA, Israel oder auch Norwegen. 1991 wurde er zum Direktor des Center for Economic Studies (CES) ernannt. Seit Februar 1999 ist Professor Sinn Präsident des Münchner ifo-Instituts - jenes Instituts, dessen monatlich veröffentlichter Geschäftsklimaindex als einer der wichtigsten Indikatoren für die weitere konjunkturelle Entwicklung in Deutschland gilt. Zudem ist der Ökonom Mitglied in zahlreichen Fachvereinigungen sowie Ausschüssen und als Berater tätig.
Professor Sinn ist verheiratet und hat drei mittlerweile erwachsene Kinder.

 

Wenige Wochen vor Beginn der ersten Tarifverhandlungen in diesem Jahr deutet alles auf harte Konfrontationen hin. Die Arbeitgeber fordern, auf Lohnerhöhungen beim Flächentarifvertrag zu verzichten. Die Gewerkschaften halten dagegen, Nullrunden seien in Wahrheit Lohnkürzungen, betonen sie. Der ifo-Präsident Hans-Werner Sinn bezieht im Interview mit unserer Zeitung eine klare Position zum Thema Lohnpolitik.

Die deutsche Wirtschaft hat die Stagnation überwunden: Das Bruttoinlandsprodukt legte im vergangenen Jahr um 1,7 Prozent zu. Erstmals soll nun auch die Binnennachfrage wieder anziehen. Ist Deutschland der "Rettung" aus dem Konjunkturtal einen kleinen oder großen Schritt näher gekommen?

Professor Dr. Hans-Werner Sinn: Einen kleinen. Denn angesichts des riesigen Booms der Weltwirtschaft, der so kräftig ist wie in den vergangenen 28 Jahren nicht mehr, hätte der Aufschwung wesentlich stärker sein müssen.

Die Weltwirtschaft ist 2004 um rund fünf Prozent gewachsen. Warum kann Deutschland nur in so begrenztem Maß am Wachstum teilhaben?

Sinn: Wir haben seit Mitte der 90er-Jahre eine länger anhaltende Wachstumskrise - was sich daran zeigt, dass wir das Land in West- und Mitteleuropa sind, das am langsamsten gewachsen ist. Das liegt daran, dass wir eine Strukturkrise haben, mit der wir nicht richtig fertig werden. Wir schaffen es nicht, alle Menschen sinnvoll in die Produktion zu integrieren. Trotz Wirtschaftsaufschwungs nimmt die Arbeitslosigkeit immer noch zu.

Allgemein gelten mindestens zwei Prozent Wachstum als Schwelle für die Entstehung, neuer Arbeitsplätze. Sie rechnen auch langfristig nur noch mit Wachstumsraten von rund einem Prozent. Kann die Konjunktur überhaupt noch die strukturelle Arbeitslosigkeit beseitigen?

Sinn: Das hat sie noch nie gekonnt. Die Konjunktur kann nur den konjunkturellen Teil der Arbeitslosigkeit beseitigen, und der ist allenfalls ein Siebtel, wenn man der OECD glauben darf. Selbst bei einem Super-Konjunkturboom hätten wir immer noch Massenarbeitslosigkeit. Im Übrigen haben wir ja einen Boom. Besser wird es kaum.

Sie fordern längere Arbeitszeiten. Aber bisher haben weder kürzere noch längere Arbeitszeiten das Problem der Massenarbeitslosigkeit lösen können. Unter welchen Voraussetzungen ist Vollbeschäftigung in Deutschland möglich?

Sinn: Kürzere Arbeitszeiten haben nach einer weltweit bekannten Studie von Jennifer Hunt maßgeblich zur Vergrößerung der Arbeitslosigkeit beigetragen. Längere Arbeitszeiten haben wir ja nun noch nicht gehabt. Längere Arbeitszeiten bei gleichem Geld bedeuten, dass die Stundenlohnkosten fallen und dass manche Standortentscheidungen wieder zu Gunsten Deutschlands ausfallen. Eine Verlängerung der Arbeitszeit bietet den Königsweg zur Gesundung unseres Landes. Weil nicht nur die Menschen, sondern auch der Kapitalstock der Wirtschaft länger arbeitet, gibt es einen unmittelbaren Wachstumsschub. Und im zweiten Schritt wird es auch mehr Arbeitsplätze geben, weil die Menschen nicht mehr kosten als vorher, wohl aber mehr leisten.

Was muss noch hinzukommen auf dem Weg zur Vollbeschäftigung?

Sinn: Vollbeschäftigung kann man nur erreichen, wenn man sich nach der Decke streckt. Das Leben ist schwieriger geworden. Schon früher waren die Löhne zu stark gestiegen. Seit 30 Jahren haben wir das Problem wachsender Arbeitslosigkeit. Seit zehn Jahren beteiligen sich osteuropäische Staaten am Wettbewerb um das knappe Kapital. Deren Löhne liegen bei einem Siebtel der unseren. Außerdem ist China nun dabei mit Löhnen von einem Fünfundzwanzigstel der unseren. Die zunehmende Niedriglohnkonkurrenz aus Osteuropa und Asien macht uns erheblich zu schaffen. Die ehemals kommunistischen Länder buhlen um das Kapital, das wir hier dringend brauchen.
Und wir denken, wir müssen mit unseren Löhnen nicht reagieren - die Konsequenz ist eine immer schneller wachsende Arbeitslosigkeit.

Die meisten bisherigen Reformen haben spürbare Belastungen für die Bürger gebracht, aber kaum neue Jobs. Sehen Sie eine Bringschuld der Wirtschaft?

Sinn: Wir haben ja überhaupt noch keine Reformen gehabt. Wir stehen erst am Beginn einer historischen Phase, wo wir anfangen, über Reformen nachzudenken. Selbst Hartz IV ist erst ein paar Tage in Kraft. Und solch eine strukturelle Reform wie Hartz IV braucht einige Jahre bis zur völligen Umsetzung. Außerdem reicht Hartz IV nicht. Was heißt hier also Bringschuld der Wirtschaft. Es geht nicht um Moral, sondern die Wirtschaft geht dahin, wo sie am meisten Gewinne macht. Und das ist derzeit eben nicht Deutschland.

Viele große Unternehmen nutzen Kostenentlastungen allein zu Investitionen im Ausland, zur Kurspflege oder zur Befriedigung der Aktionäre. Profitgier lässt sich natürlich nicht ändern, wirft aber die Frage auf: Ist unser Wirtschaftssystem überhaupt noch auf Dauer überlebensfähig?

Sinn: Das ist eine tiefgreifende Frage. Vielleicht bricht der Kapitalismus ja irgendwann mal zusammen, und es kommt eine neue Form des Kommunismus. Aber bevor das passiert, bricht Deutschland zusammen. Insofern ist die Frage müßig. Die Welt ist kapitalistisch organisiert. Wer sich nicht nach den Spielregeln richtet, geht unter.

Das heißt, Deutschland ist für die Globalisierung nicht gut genug aufgestellt.

Sinn: Stimmt. Die Botschaft ist absolut bitter. Es kann nur eines getan werden: man muss billiger werden, die Menschen müssen billiger werden. Die Unternehmen sind ja wettbewerbsfähig. Das ist das Phänomen in Deutschland. Die Unternehmen machen Gewinne - zum Teil durch ihre ausländischen Niederlassungen. Die Aktienkurse stehen wieder ganz gut da. Aber die Arbeitnehmer sind nicht wettbewerbsfähig. Die Firmen haben die Niedriglöhne aus aller Welt als Alternative, um ihr Kapital dorthin zu tragen. Die einheimischen Arbeitnehmer glauben, sie hätten den Sozialstaat als Alternative. Der macht es aber auch nicht mehr lange.
Wir haben auch ein Problem der Binnennachfrage. Das ist aber verursacht durch das Lohnkostenproblem. Wir können die Binnennachfrage nicht ankurbeln, indem wir die Löhne erhöhen. Denn dann reduzieren wir die Investitionsgüternachfrage, die auch Binnennachfrage ist. Warum können wir den Konsum nicht ankurbeln? Weil eine aggressive Lohnpolitik immer mehr Entlassungen zur Folge hat. Und damit die Verunsicherung der Menschen noch weiter vergrößert. Und genau diese Verunsicherung ist der Hauptgrund, warum so wenig konsumiert wird. Alles lässt sich also auf das Problem der hohen Lohnkosten reduzieren.

Das heißt also, die Löhne in Deutschland sinken, während sie etwa in osteuropäischen Ländern sehr langfristig steigen. Wie weit "fallen" denn die Löhne in Deutschland?

Sinn: Sie müssen vielleicht nicht fallen. Aber sie können nicht mehr steigen. Wenn man glaubt, man könnte Lohnsteigerungen weiter aus dem System herauspressen, dann gibt es noch mehr Arbeitslosigkeit.
Historisch betrachtet haben wir schon einmal so eine Phase gehabt. Von 1820 bis 1870 gab es praktisch keine Reallohnsteigerungen. Grund war die Landflucht. Immer mehr Menschenmassen drängten damals in die Städte und machten den dort lebenden Arbeitnehmern Konkurrenz. Was damals die Leute waren, die vom Lande kamen, sind heute etwa die Polen, die Ukrainer, die Chinesen.

Wie sollte der "Königsweg Lohnpolitik" flankiert werden?

Sinn: Wir brauchen eine stärkere Lohnspreizung, müssen niedrige Löhne für die Geringverdiener akzeptieren. Was außerordentlich ungerecht und problematisch ist aus sozialer Sicht. Aber das verlangt der Markt. Zur Kompensation brauchen wir ein System der aktivierenden Sozialhilfe, wo wir den Menschen, die offenbar nicht in der Lage sind, ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem sie leben können, einen Lohnzuschuss zahlen. Heute geben wir vielen nur Lohnersatz - eine Politik, die nicht funktioniert. Dadurch halten wir zwar die Lohnansprüche dieser Menschen hoch, aber vernichten Arbeitsplätze.

Müssen aus demographischen Gründen nicht die Löhne steigen, damit die Sozialabgaben überhaupt noch bezahlt werden können?

Sinn: Natürlich, das ist das Problem. Wir haben das Rentenproblem jetzt zwar noch nicht wirklich. Aber spätestens wenn die Babyboomer, die jetzt 40 sind, 70 sind, bräuchten wir höhere Steuern und Abgaben. Wegen der Globalisierung bräuchten wir aber eigentlich niedrigere. Wie soll das gehen? Wir stecken in der Zwickmühle.

Gibt es einen Ausweg?

Sinn: Wunschdenken hilft hier nicht weiter. Man kann nicht Lohneinkommen verteidigen, die der Markt nicht hergibt. Das ist eine bittere Wahrheit. Es nützt nichts, sich etwas vorzumachen. Zu der bitteren Wahrheit gehört auch, dass das Kapital knapp ist. Da sind die Chinesen, die Inder und die Osteuropäer, die ums Kapital buhlen und sehr viel höhere Renditen bieten als das in Deutschland der Fall ist. Wer Kapital hat, gehört zu den Gewinnern in dieser historischen Phase. Wer nur seine Arbeit anzubieten hat, gehört zu den Verlierern, weil er mit den exkommunistischen Ländern konkurriert Das alles sind keine wertenden Feststellungen. Mit Moral hat das nichts zu tun. Es geht hier darum, den Tatsachen in die Augen zu schauen. Die Gesetze der Ökonomie sind genauso moralisch oder unmoralisch wie die Gesetze der Physik.

Sie haben drei Kinder. Was raten Sie ihnen heute für die Zukunft?

Sinn: Sich auszubilden, um durch die bessere Ausbildung .den hohen Lohn, den man hier in Deutschland zahlt, auch zu rechtfertigen. Man kann natürlich teurer sein als andere. Dann muss man aber entsprechend besser sein. Ich sage ja nicht, dass die Löhne auf das gleiche Niveau konvergieren werden. Man kann so viel teurer sein, wie man besser ist. Aber wir sind heute sieben Mal so teuer wie die Polen und 25 Mal so teuer wie die Chinesen. Ich bezweifle, dass wir auch soviel besser sind.

Das klingt alles sehr pessimistisch.

Sinn: Es ist kein Pessimismus. Es ist Realismus. Ich weise es weit von mir, dass ich pessimistisch bin. Ich glaube ja, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, mit dem Prozess fertig zu werden. Aber nicht durch bloßes Wunschdenken, durch das Verschreiben von Beruhigungspillen oder bloße Werbekampagnen. Schlüssel sind die Lohnpolitik und am unteren Ende, bei den Geringverdienern, Lohnzuschüsse. Also ein neuer Sozialstaat, der auf Lohnzuschüssen basiert statt auf Lohnersatz. So gibt es langfristig mehr Arbeitsplätze, die Sozialsysteme werden entlastet, und den Geringverdienern geht es besser.

Das Interview führte Werner Kolbe