"Der Sozialstaat zahlt fürs Nichtstun"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Welt am Sonntag, 17.09.2006, S. 9

Ifo-Präsident Sinn erwartet weiter steigende Leistungen.

In Deutschland gibt es vor allem im Niedriglohnsektor zu wenige Arbeitsplätze, weil der Sozialstaat als unschlagbare Konkurrenz zu den Unternehmen auftrete. Diese Auffassung vertritt der Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Er rät, Sozialtransfers zu senken und Zuverdienst zu erleichtern. Die Große Koalition werde es nicht schaffen, Anreize zur Arbeitsaufnahme zu schaffen. An der Steigerung der Transferzahlungen werde sich somit nichts ändern.

Welt: Herr Professor Sinn, was hat die weitere Zunahme der Transferleistungen in Deutschland ausgelöst?

Hans Werner Sinn: Sie wird im Wesentlichen durch die Hartz-Gesetze verursacht. Dadurch wurden mehr Menschen anspruchsberechtigt und erhalten nun ergänzende Sozialleistungen. Ein schleichender Prozess ist die zunehmende Zahl der Rentner.

Wie kann die Politik diesem Trend entgegenwirken?

Sinn: Nicht die Zahl der Empfänger, sondern die Menge des Geldes, das ausgegeben wird, und die Bedingungen, unter denen es gezahlt wird, ist das Problem. Ich glaube, wir sollten dem Vorschlag des Sachverständigenrates folgen und Hartz IV so ändern, dass es für Nichtarbeitende um ein Drittel weniger Geld gibt. Im Gegenzug sollten wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten aber noch verbessern. Das muss nicht zwangsläufig eine Senkung der Staatsausgaben zur Folge haben. Aber der Staat wird so sehr viel mehr Menschen in Arbeit und Brot bringen.

Warum ist das der Politik bislang nicht gelungen?

Sinn: Es fehlen Arbeitsplätze, weil der Sozialstaat als Lohnkonkurrent viel Geld fürs Nichtstun zahlt und Lohnansprüche für einfache Arbeit definiert, die von der privaten Wirtschaft nicht bedient werden können. Wenn der Staat sein Geld aber fürs Mitmachen gibt und nicht fürs Wegbleiben, dann fallen die Lohnansprüche. Und bei niedrigeren Löhnen gibt es mehr Arbeitsplätze. Kurz: Der Sozialstaat sollte sich nicht als Konkurrent der privaten Wirtschaft aufstellen.

Sagt die Höhe der Transferzahlungen etwas über das Wesen der Deutschen aus?

Sinn: Die Deutschen reagieren nur auf die politisch gesetzten Anreize. Und da reagieren sie nicht anders, als die Menschen in jedem anderen Volk auch reagieren würden.

Es gab also zu wenige Anreize in der Vergangenheit?

Sinn: Es gab Anreize, der regulären Arbeit fernzubleiben, weil man nur so an das staatliche Geld kam.

Macht die Große Koalition auf Sie den Eindruck, dass sie diese Entwicklung künftig ändern wird?

Sinn: Nein. Zwar gibt es Lippenbekenntnisse zu einem Kombilohnmodell. Doch das, was da vorgeschlagen wird, ist weit entfernt von dem, was nötig ist.

Ist denn irgendwann einmal ein Ende des ungebremsten Anstiegs der Transferzahlungen absehbar?

Sinn: Derzeit ändert sich das, weil die Konjunktur anzieht, die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse zunimmt und folglich die Zahl der Transferempfänger abnimmt. Das ist aber keine Trendwende. An der längerfristigen Entwicklung steigender Transferzahlungen, die uns in Deutschland seit über 30 Jahren begleitet, wird das nicht viel ändern. Im Gegenteil. Die demografische Entwicklung wird die Ausgaben zukünftig noch zusätzlich in die Höhe treiben.

Das Gespräch führte Günther Lachmann