"Wir müssen neue Wege gehen"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Der Spiegel, 11.12.2006, S. 26-27

Der Ökonom Hans-Werner Sinn über das ewige Auf und Ab der Konjunktur

SPIEGEL: Herr Sinn, die deutsche Wirtschaft wächst so stark wie lange nicht mehr, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Hat Sie das überrascht?

Sinn: Jetzt nicht mehr. Wir haben ja schon vor einem Jahr eine sehr optimistische Prognose gemacht, weil der Ifo-Index so positiv war. Wir sind deshalb von vielen verlacht worden.

SPIEGEL: Aber Sie waren es auch, der Deutschland als krank bezeichnete und fragte "Ist Deutschland noch zu retten?"

Sinn: Die Diagnose stimmt noch immer. Das Auf und Ab der Konjunktur hat es immer gegeben. In den letzten 35 Jahren stieg die Arbeitslosigkeit in der ersten Hälfte eines Jahrzehnts immer an, in der zweiten Hälfte nahm sie dann wieder ab. Das Problem war, dass die Arbeitslosigkeit leider nie wieder auf das Niveau vor dem letzten Anstieg zurückfiel.

SPIEGEL:Wird das dieses Mal wieder so sein?

Sinn: Es kann durchaus sein, dass die Hartz-Reformen etwas wirken. Eine Kehrtwende bewirken sie sicherlich nicht.

SPIEGEL: Hängt das nicht davon ab, wie nachhaltig dieser Aufschwung ist?

Sinn: Wir glauben, dass er sehr robust ist und sicher noch deutlich über das nächste Jahr hinausträgt, möglicherweise bis ans Endes des Jahrzehnts. Das war jedenfalls in der Vergangenheit das immer wiederkehrende Muster. Aber man darf diese konjunkturelle Aufwärtsbewegung nicht für eine Trendwende in der strukturellen Entwicklung halten.

SPIEGEL: An der grundsätzlichen Wettbewerbsschwäche der deutschen Wirtschaft hat sich in also nichts geändert?

Sinn: Es gibt keine Wettbewerbsschwäche der deutschen Wirtschaft, es gibt eine Wettbewerbsschwäche der deutschen Arbeitnehmer. Die Firmen stehen international sehr gut da, aber ein großer Teil der Arbeitnehmer ist nicht mehr wettbewerbsfähig, wie die Massenarbeitslosigkeit, die wir ja immer noch haben, beweist. Die Arbeitnehmer haben durch den Fall des Eisernen Vorhangs eine massive Niedriglohnkonkurrenz bekommen. Für die Unternehmen ist das ganz angenehm, sie können sich ja der billigen Arbeitskräfte in anderen Ländern bedienen. Sie bleiben wettbewerbsfähig, weil sie die nicht mehr wettbewerbsfähigen deutschen Arbeitnehmer durch Slowaken, Chinesen und andere ersetzen.

SPIEGEL: Die Löhne sind in den vergangenen zehn Jahren nur sehr schwach gestiegen. Hat das nicht zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit geführt?

Sinn: Es hat zu einer gewissen Entkrampfung beigetragen. Allerdings sind unsere Industriearbeiter immer noch die drittteuersten auf der ganzen Welt. Von dem hohen Sockel herunterzukommen ist ein mühsamer und langwieriger Prozess.

SPIEGEL: Die Arbeitnehmer sollen sich weiter zurückhalten und nicht am Aufschwung partizipieren?

Sinn: Sicher sollten die Arbeitnehmer unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten am Aufschwung partizipieren. Wenn diese Partizipation aber in vollem Umfang stattfände, gingen noch mehr Arbeitsplätze verloren.

SPIEGEL: Was schlagen Sie also vor?

Sinn: Wir müssen neue Wege gehen. Der eine ist der Investivlohn. Er sorgt dafür, dass Arbeitnehmer auch zu Vermögensbesitzern werden und damit ein zweites Einkommen haben. Diese Idee wurde in den sechziger Jahren schon einmal diskutiert. Damals haben sich die Gewerkschaften für Mitbestimmung statt für Mitbeteiligung entschieden. Das brachte ihnen und ihren Funktionären Aufsichtsratsmandate und Tantiemen, den Arbeitnehmern dagegen nichts. Hätten sich die Arbeitnehmer bereits damals beteiligen können, besäßen sie heute ein erkleckliches Vermögen. Wer bei Siemens das Investivlohnprogramm ausgeschöpft hat, bekommt heute taussend Euro mehr Rente im Monat als andere, und hätten alle Siemens-Arbeitnehmer ihre Anteile behalten, anstatt sie zu verkaufen, so hätten besäßen sie heute 25 Prozent der Siemens-Aktien.

SPIEGEL: Was schlagen Sie außerdem vor?

Sinn: Ein weiterer Weg ist der aktivierende Sozialstaat, der Löhne, die wir nicht mehr für auskömmlich halten, durch Zuschüsse auffüllt.

SPIEGEL: Also Kombilöhne.

Sinn: Ja, aber nicht, wie es in der Regierung diskutiert wird, als Zuschüsse an Arbeitgeber, sondern direkt an Arbeitnehme. Eine solche aktivierende Sozialhilfe würde dazu führen, dass niedrige Löhne akzeptiert würden, zu denen es dann sehr viel mehr Jobs gäbe.

SPIEGEL: Und damit ließe ich die Arbeitslosigkeit strukturell abbauen?

Sinn: Die Spaltung der deutschen Gesellschaft ist die Konsequenz aus der Niedriglohnkonkurrenz, die uns der Fall des Eisernen Vorhangs gebracht hat, und einem Lohnersatzsystem, welches Mindestlohnansprüche begründet …

SPIEGEL: … Sie meinen Hartz IV …

Sinn: … die angesichts der internationalen Wettbewerbssituation in immer weniger Fällen befriedigt werden können. Deshalb verlagern die Unternehmen immer mehr Arbeitsplätze ins Ausland.

SPIEGEL: Hartz IV soll also durch aktivierende Sozialhilfe ersetzt werden?

Sinn: Das ist gar nicht so radikal, wie es sich anhört, man müsste Hartz IV um ein Drittel kürzen, im Ausgleich die Hinzuverdienstgrenze auf 500 Euro erhöhen und das Hartz IV-Einkommen in heutiger Höhe, also ungeschmälert, als Lohn für eine kommunale Vollzeitbeschäftigung zur Verfügung stellen. Die Kommunen erhielten das Recht, die von ihnen erworbene Arbeitzeit dann auf dem Wege von Zeitarbeitsfirmen an die Privatwirtschaft zu verleihen.

SPIEGEL: Und was soll der bekommen, der diese Arbeit nicht annimmt?

Sinn: Auf jeden Fall wesentlich weniger als den Regelsatz.

SPIEGEL: Sind die Kosten eines solchen Modells nicht unkalkulierbar?

Sinn: Nein, sie sind nach unseren Berechnungen niedriger als im derzeitigen System. Das Sozialprodukt steigt, weil die Arbeitslosigkeit abgebaut wird und die Menschen zusätzliche Werte schaffen. Damit können wir für ein ganzes Jahrzehnt einen Wachstumsschub erzeugen.

SPIEGEL: Sehen Sie für solche Ideen wirklich eine Chance?

Sinn: Gerade jetzt im Aufschwung hätten wir die Chance, Reformen, die sonst schmerzlicher wären, durchzuführen. Aber im Aufschwung gibt es immer auch Kräfte, die sagen, es gebe eine Kehrtwende und alles werde besser. Die Reformwilligkeit wächst wahrscheinlich erst wieder, wenn sich die nächste Flaute Anfang des kommenden Jahrzehnts aufzubauen beginnt.

INTERVIEW: ARMIN MAHLER