"Warum ist unser Rentensystem so ungerecht?"

Bild, 24.01.2007, Nr. 20/4, S. 2

BILD-Interview mit Prof. Hans-Werner Sinn (58), Präsident des Ifo-Instituts

Von STEFAN ERNST und OLIVER SANTEN

BILD: Eine neue Studie belegt, dass in unserem Sozialsystem die Alten auf Kosten der Jungen leben. Warum ist vor allem das Rentensystem so ungerecht?
Sinn: Weil der Generationenvertrag so ähnlich funktioniert wie ein Kettenbrief: Wer zuerst dabei ist, bekommt viel raus. Wer später dazu kommt, hat das Nachsehen, weil zu wenige oder keiner mehr mitmacht. Irgendwann bricht der Kettenbrief zusammen. Übertragen auf die Rente ist das der Fall, wenn die Gesellschaft nicht genügend Kinder hat.

BILD: Heißt das, die jüngere Generation wird betrogen?
Sinn: Betrug wäre zuviel gesagt. Es wurde versäumt, den Jüngeren eine klare Ansage zu machen: Eine Gesellschaft, die keine Kinder hat und nicht spart, muss im Alter hungern! Woher soll das Geld denn kommen? Die eingezahlten Beiträge fließen ja immer gleich in die laufenden Rentenzahlungen.

BILD: Muss der Generationenvertrag aufgehoben werden?
Sinn: Nein, aber eine Korrektur ist überfällig! Da es an Beitragszahlern fehlt, sollten die Bürger zum zusätzlichen Sparen verpflichtet werden. Das Geld und die Zeit, die frühere Generationen für die Kindererziehung eingesetzt haben, kann man heute in Ersparnisse umwandeln. Dann muss eben mal auf die Urlaubsreise oder das neue Auto verzichtet werden.

BILD: Wie wird die Rente gerechter?
Sinn: Da für die meisten die künftige Rente nicht mal mehr auf Sozialhilfeniveau liegen wird, muss aufgestockt werden. Für Kinderlose sollte das Riester-Sparen Pflicht werden. Alle anderen werden je nach Kinderzahl schrittweise von der Sparpflicht befreit und bekommen eine Zusatzrente. Diese ,Kinderrente' müsste später über Steuern finanziert werden - und zwar von allen dann Berufstätigen.

BILD: Hat die Politik beim Thema Generationen-Gerechtigkeit versagt?
Sinn: Ja, allen voran Adenauer, der sich weigerte, eine solche Kinderkomponente in die Altersvorsorge einzubauen. Das ist ein Konstruktionsfehler, weil den Menschen vorgegaukelt wird, dass die Rente auch ohne Kinder finanziert werden kann.

BILD: Warum sagen uns Politiker nicht die ganze Wahrheit?
Sinn: Weil sie kurzsichtig nur nach dem nächsten Wahlgewinn streben und vergessen, was langfristig wirklich wichtig ist für den Bestand einer Gesellschaft. Musterbeispiel ist Norbert Blüm. Er hat behauptet, die Rente sei sicher, obwohl er gewusst haben musste, dass das nicht stimmte. Noch heute wird das Renten-Problem völlig verharmlost.

BILD: Wird die Rente zur gesellschaftlichen Zeitbombe?
Sinn: Ja! Ein Verteilungskonflikt zwischen Jungen und Alten steht bevor, der nur durch rigorose weitere Reformen zu vermeiden ist. Denn: Die Zahl der Alten wird sich im Verhältnis zu den Jungen in den nächsten 30, 40 Jahren verdoppeln. Wir müssen also bei gleich bleibenden Beiträgen die Rente halbieren oder bei gleicher Rente die Beiträge und die Bundeszuschüsse verdoppeln. Das ist politischer Sprengstoff.

BILD: Was raten Sie den jungen Menschen, die sich Sorgen um ihre Rente machen?
Sinn: Sie sollten den Politikern ordentlich Dampf machen, das System endlich umzubauen! Und natürlich: Sparen! Denn die gesetzliche Rente wird im Verhältnis zu den Löhnen weiter schrumpfen und nur noch eine Basis-Absicherung sein.