Wenn die Löhne zu stark steigen, wird der Aufschwung verfrühstückt

Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Tagespost, 17.03.2007, Nr. 33, S. 7

Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, plädiert für maßvolle Tarifabschlüsse – Aktivierende Sozialhilfe soll Transferleistungen für Arbeitslose umgestaltenWie lässt sich die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland senken? Nicht allein durch eine günstige Konjunktur, sagt Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchener ifo-lnstituts. Denn die Arbeitslosigkeit hat sich über Jahrzehnte aufgebaut Statt Arbeitslosen Geld für das Nichtstun zu geben, sollte der Staat niedrige Löhne bezuschussen und so Menschen ein Auskommen aus eigener Kraft ermöglichen, fordert Professor Sinn. Über Konjunktur und Wirtschaftslage, Tarifverhandlungen und das vom ifo-lnstitut erarbeitete Modell einer aktivierenden Sozialhilfe sprach Reinhard Nixdorf mit dem Münchener Ökonom am Dienstag auf dem Wirtschaftsforum Mainfranken in Bad Kissingen. Das Forum wurde von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) und der Chancenregion Mainfranken veranstaltet.

Herr Professor Sinn, vor kurzem haben sie Deutschland noch krank geschrieben. Nun ist der Patient Deutschland plötzlich wieder erstaunlich vital: Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Wirtschaft wächst wie lange nicht mehr: Hat die Wirklichkeit Sie widerlegt?

Auch eine Krankheit kommt in Schüben. Derzeit läuft die Konjunktur prächtig, aber Konjunktur ist nicht Wachstum, sondern nur eine temporäre Verbesserung des Auslastungsgrades der Wirtschaft. Das Auf und Ab der Wirtschaft innerhalb eines Jahrzehnts darf man nicht mit dem Trend verwechseln, der über die Jahrzehnte hinweg in Deutschland immer mehr Arbeitslosigkeit gebracht hat. Schon in den vergangenen Jahrzehnten stieg die Arbeitslosigkeit stets in der ersten Hälfte einer Dekade und fiel in der zweiten. Leider fiel sie bislang nie so viel, wie sie vorher gestiegen war. Ob das diesmal anders werden wird, bleibt abzuwarten. Auch unter günstigen Bedingungen wird die Arbeitslosigkeit dieses Jahr mit etwa 4 Millionen noch höher sein als beim letzten Aufschwung im Jahr 2000. Das Testjahr wird 2008. Wenn wir dann unter 3,9 Millionen kommen, können wir berechtigte Hoffnung hegen, den verheerenden Trend der letzten Jahrzehnte zu brechen.

Welchen Anteil haben die Reformen von Rente, Gesundheitswesen und am Arbeitsmarkt an diesem Aufschwung?

Ich glaube schon, dass die Hartz-Gesetze, insbesondere die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, den Arbeitsmarkt mobilisiert haben. Der Staat zahlt eben nicht mehr so viel dafür, dass Arbeitslose zu Hause bleiben. Aufgrund der Hartz-Gesetze sind viele Arbeitslose bereit, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Und zu niedrigeren Löhnen gibt es mehr Jobs. In welchem Umfang der Arbeitsmarkt von diesem Mechanismus profitiert, lässt sich aber noch nicht genau feststellen.

Das Frühjahr 2007 steht im Zeichen der Tarifverhandlungen. Ist der Abschluss in der Chemiebranche mit 3,7 Prozent plus 0,9 Prozent Einmalzahlung gut für die Konjunktur?

Eigentlich schluckt die Mehrwertsteuer bereits den gesamten Produktivitätszuwachs dieses Jahres. Wenn das derzeitige Beschäftigungsniveau gehalten werden soll, kann bei den Tarifgesprächen eigentlich nur über einen Inflationsausgleich verhandelt werden. Das liefe auf Lohnerhöhungen von 2,5 Prozent hinaus. Was darüberliegt, führt zu einem weiteren Abbau von Arbeitsplätzen, was darunter liegt, lässt neue Arbeitsplätze entstehen.

Die IG Metall fordert 6,5 Prozent Lohnerhöhung. Hält das die Konjunktur aus?

Zunächst schon. Der Konsum wird dann bei der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage an die Stelle der Investitionen treten. Einerseits haben die Leute mehr Geld zum Ausgeben, andererseits sinkt die Rentabilität der Investitionen, so dass die Unternehmen nicht mehr so viel in die Erweiterung ihrer Kapazitäten investieren und ihr Geld lieber auf den Kapitalmarkt oder direkt ins Ausland tragen. Damit ist dann der Keim des Abschwungs wieder gelegt. Das Auf und Ab der Investitionsgüternachfrage macht die Konjunktur. Deshalb wäre dies eine gefährliche Entwicklung. Außerdem können natürlich nur Investitionen nachhaltiges Wachstum bewirken. Auch die Chance auf eine Verstetigung des Aufschwungs würde dann schwinden.

Mit anderen Worten: Der Aufschwung wird verfrühstückt?

So könnte man es sagen.

Die Politik hat aber die Arbeitnehmer zu Lohnforderungen ermuntert, mit dem Hinweis, dass es gerecht sei, wenn sie einen Anteil am Aufschwung haben...

Sicherlich ist es unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit richtig, höhere Löhne zu fordern. Aber es gibt nicht nur den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, sondern auch den der Schaffung von Arbeitsplätzen. Wenn man versucht, Gerechtigkeitsziele in einer Marktwirtschaft über die Lohnpolitik zu erreichen, schadet man genau denen, denen man helfen will, indem man sie in die Arbeitslosigkeit treibt. Nur die Sozialpolitik des Staates kann den Ausgleich schaffen.

Wären Investivlöhne ein Ausweg, für die sich die Bundeskanzlerin ausgesprochen hat?

Den Rat von Frau Merkel halte ich für sehr wichtig. Durch Investivlöhne kann man die Arbeitnehmer zu Vermögensbesitzern machen. Hätten die Siemens-Mitarbeiter sämtliche Programme für Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand ausgenützt, so würde der durchschnittliche Siemens-Mitarbeiter heute auf eine zusätzliche Rente von tausend Euro kommen. Leider haben die Gewerkschaften die Idee der Mitarbeiterbeteiligung in den sechziger Jahren zugunsten einer Mitbestimmung, die ihnen schneller neue Posten brachte, aufgegeben. Vielleicht hatten sie auch Angst, dass lauter kleine Kapitalisten entstehen würden, die dann mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollen.

Der Arbeitnehmer, der einen Investivlohn bezieht, hätte aber ein doppeltes Risiko: den Verlust seines Arbeitsplatzes und den Verlust seiner Rücklagen. Ist das nicht ein wenig viel verlangt?

Das trifft zu, wenn der Investivlohn so konstruiert ist, dass Arbeitnehmer Anteile am Unternehmen, in dem sie arbeiten, erwerben. Denkbar wären aber auch Fonds, die Anteile aus vielen Unternehmen halten. Die Mitarbeiter aus diesen Unternehmen würden dann Anteile an diesen Fonds halten. Auf diese Weise wäre das Risiko minimiert. Müsste einer der beteiligten Betriebe Konkurs anmelden, wären alle Mitbesitzer dieses Fonds zwar von dem Wertverlust betroffen, aber nur in geringem Ausmaß. Für einen Investivlohn ohne Fonds spricht aber die Verbesserung der Anreizwirkungen. Als Mitbesitzer identifizieren sich die Mitarbeiter stärker mit ihrem Betrieb, der Betriebsrat beachtet die langfristigeren Belange des Unternehmens stärker, und die innerbetrieblichen Konflikte werden durch eine Beteiligung entschärft. Das würde die Produktivität erhöhen. Am besten ist es wohl, eine Mischlösung anzustreben, bei der ein Teil der Beteiligungsrechte über Fonds läuft, ein anderer Teil direkt gehalten wird. Man kann das den Betroffenen im Endeffekt auch selbst überlassen.

Sie haben eine aktivierende Sozialhilfe gefordert, gekommen sind die Hartz-Gesetze. An welchen Stellen würden Sie diese Gesetzgebung ändern?

Das Modell der aktivierenden Sozialhilfe sieht vor, mehr fürs Mitmachen und weniger fürs Wegbleiben zu bezahlen. Derzeit erhält eine vierköpfige Familie 1600 Euro an Hartz IV- Unterstützung. Wenn jemand aus dieser Familie arbeitet, darf er nur die ersten hundert Euro seines Hinzuverdienstes behalten. Was er über diese hundert Euro hinaus verdient, behält der Staat zu achtzig Prozent ein. Denn die Hartz IV- Unterstützung wird entsprechend gekürzt. Hier schlage ich vor, die Hinzuverdienstgrenze von hundert auf fünfhundert Euro zu erhöhen. Derzeit muss derjenige, der fünf Euro zu seinem Hartz IV-Satz netto zuverdienen will, brutto fünfundzwanzig Euro zusätzlich erarbeiten, weil der Staat von diesem Betrag achtzig Prozent einbehält. In dem System der aktivierenden Sozialhilfe würde bis zur Grenze von fünfhundert Euro nichts von seinem Hinzuverdienst einbehalten. Für fünf zusätzliche Euro netto wären also fünf zusätzliche Euro brutto nötig. Und Jobs für fünf Euro würde es in Hülle und Fülle geben. Im haushaltsnahen Bereich würden in diesem Fall sehr viele Dienstleistungs-Jobs entstehen. Die Unternehmen würden nicht mehr so viel Produktion verlagern, nicht jeder Arbeiter würde durch eine Maschine ersetzt.

Bisher wurde gegen das Modell einer aktivierenden Sozialhilfe eingewendet, sie würde die Löhne drücken und zu überhöhten Steuerausfällen führen. Sind solche Befürchtungen gerechtfertigt?

Dass die Löhne gedrückt werden, ist ja gerade der Mechanismus, der mehr Jobs schafft: Aber die niedrigeren Löhne wären nach dem Modell einer aktivierenden Sozialhilfe nicht mit Einkommensverlusten verbunden, denn sie würden durch staatliche Zuschüsse aufgestockt. Beim Modell einer aktivierenden Sozialhilfe würde der Anspruchsberechtigte das Hartz IV-Geld weiter beziehen, während er arbeitet. Heute wird ihm das das Hartz IV-Geld fast vollständig entzogen, wenn er arbeitet. Die Löhne kämen zwar ins Rutschen, aber nicht die Einkommen. Mindesteinkommenssicherung ist in der Marktwirtschaft möglich, Mindestlohnsicherung nicht.

Müsste der Staat also mehr zuschießen als jetzt?

Ja, fürs Mitmachen. Aber damit das insgesamt nicht teurer wird, kann er fürs Wegbleiben nicht mehr so viel zahlen wie heute. Wer nicht zu arbeiten bereit ist, muss mit Kürzungen von 1 600 Euro auf 1 150 Euro in meinem Beispiel rechnen. Zudem fordert unser Modell kommunale Jobs, deren Lohn in Höhe des heutigen Hartz IV-Satzes liegen sollte. Niemand, der bereit ist, zu arbeiten und auch arbeiten kann, bräuchte also einen Einkommensverlust hinnehmen.

Was halten Sie von einem Mindestlohn?

In Deutschland gibt es bereits einen impliziten Mindestlohn aufgrund der sozialen Ersatzleistungen – vom Arbeitslosengeld, über die Sozialhilfe bis zur Frührente. Dieses staatliche Geld fließt nur dann, wenn der Anspruchsberechtigte nicht arbeitet. Wenn er arbeitet, fließt es weniger oder gar nicht. Es begründet also einen Mindestlohnanspruch gegenüber der Marktwirtschaft. Dieser Mindestlohnanspruch liegt vielfach über der Produktivität der Betroffenen und treibt sie in die Arbeitslosigkeit. Hier liegt das Problem des deutschen Arbeitsmarkts. Denn diese impliziten Mindestlöhne führen dazu, dass niemand bereit ist, Jobs anzunehmen, die unter dem Sozialhilfesatz bezahlt werden. Und deshalb werden auch keine solchen Jobs angeboten. Selbstverständlich hätte die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne auf dem selben Niveau wie die impliziten Mindestlöhne keine zusätzlichen negativen Folgen. Sie würden aber den Weg zurück zur Vollbeschäftigung, der mit der aktivierenden Sozialhilfe möglich ist, verbauen. Liegen die expliziten Mindestlöhne gar über den impliziten Mindestlöhnen, die wir schon haben, steigt die Arbeitslosigkeit sogar noch.

Was ist zu tun?

Eine Regierung, die ernsthaft zur Vollbeschäftigung zurückkehren will, sollte die impliziten Mindestlöhne aufgrund des Arbeitslosengeldes II verringern, wie ich das vorhin erläutert habe. Sie sollte das Geld fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben bezahlen und nicht an die Stelle der impliziten Mindestlöhne auch noch gesetzliche Mindestlöhne einführen. Auf diese Weise werden doch nur die Mechanismen außer Kraft gesetzt, die Jobs schaffen.

Derzeit drohen der Menschheit immense Schäden aufgrund des Klimawandels. Wie kann die Wirtschaft ökologisch umgestaltet werden?

Um zu wirklichen Fortschritten im Kampf gegen die Klimakatastrophe zu kommen, bedarf es zwingender Vereinbarungen zwischen den Industriestaaten, die Immissionen drastisch zu begrenzen. Außerdem müssen die Ölförderländer mit ins Boot, damit sie ihre Extraktion verringern. Nur so lässt sich das Problem lösen. Wenn ein Land allein seinen Ölverbrauch verringert, drückt es nur den Weltmarktpreis für Öl und erhöht die Nachfrage der anderen Länder, so dass dann dort das CO2 in die Luft geblasen wird. Das heißt: Wenn die derzeitige Klimapolitik Deutschlands nicht mit den anderen Ländern der Welt koordiniert wird, führt sie nur dazu, dass unser Land den chinesischen Aufschwung fördert. Da das Öl, das wir nicht verbrauchen, nicht im Boden bleibt, wird es nach China und sonstwohin fließen.