"Wir brauchen Überzeugungstäter"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Welt, 04.06.2005

Der Münchner Wirtschaftswissenschafter Hans-Werner Sinn fordert von der nächsten deutschen Regierung Mut zum Untergang, will die EU-Erweiterung bremsen und die Macht der Gewerkschaften beschneiden

DIE WELT: Die EU erlebt derzeit ein Erdbeben. Was wäre der richtige Weg für Brüssel nach der zweimaligen Mißtrauenserklärung durch die Bürger?

Hans-Werner Sinn: Ich finde, man kann von Glück sagen, daß wir nun die Gelegenheit erhalten, die Verfassung noch einmal zu diskutieren und dann auch zu verändern. Das ging alles viel zu schnell, über die Köpfe der Bürger hinweg. Die Verfassung spezifiziert eine Wirtschaftsunion, eine Währungsunion und eine Sozialunion für Europa. Schon bei der Währungsunion spüren wir heute, daß alles nicht so einfach ist, wie es zunächst schien. Eine Sozialunion können wir überhaupt nicht gebrauchen. Die Inklusionsrechte, die in Artikel II 94 der Verfassung in Verbindung mit der neuen Freizügigkeitsrichtlinie vom Mai 2004 spezifiziert sind, gehen viel zu weit. Sie führen zur Erosion der Sozialstaaten der besser entwickelten Länder. Ich vermute, daß auch die Deutschen die Verfassung ablehnen würden, wenn sie wüßten, was dort geschrieben steht, und wenn sie gefragt würden.

DIE WELT: Ist der Euro, über den nun auch wieder debattiert wird, schuld an Arbeitslosigkeit und hohen Preisen, oder wird da der Falsche zum Sündenbock gemacht?

Sinn: Der Euro hat eine Zinskonvergenz gebracht, die den deutschen Firmen den Vorteil günstiger Finanzierungskonditionen genommen und einige deutschen Großbanken nun ins Hintertreffen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten gebracht hat. Der Euro bringt für Europa mehr Wachstum, weil das Kapital in Portugal, Irland oder Finnland ertragreicher arbeiten kann, als es in Deutschland möglich gewesen wäre, aber leider nicht für Deutschland. Als guter Europäer bin ich dennoch für den Euro. Er ist eine historische Notwendigkeit auf dem Weg zu einem vereinten Europa. Spekulationen über die Rücknahme der Währung sind aberwitzig. Im übrigen erklärt der Euro nur einen kleinen Teil unserer Probleme. Die Hauptprobleme liegen bei der Globalisierung und dem deutschen Arbeitsmarkt.

DIE WELT: Womit wir in Deutschland wären. Wie schätzen Sie die Stimmung in der Wirtschaft nach Ankündigung der Neuwahlen ein?

Sinn: Positiv, denn die Ankündigung ist die Versicherung, daß die Reformen weitergehen. Entweder wird Herr Schröder wiedergewählt und sieht das als Bestätigung seiner Reformpolitik. Oder Frau Merkel wird gewählt, und die wird noch mehr Reformen machen wollen. Die Gefahr, die sonst bestanden hätte, daß nämlich linke Gruppierungen sich formieren und bei der nächsten Wahl den Reformprozeß stoppen könnten, ist damit gebannt.

DIE WELT: Was macht Sie so sicher, daß die Union mehr Reformelan besitzt?

Sinn: Sicher bin ich nicht, aber ich hoffe, daß den Worten Taten folgen. Auf jeden Fall hoffe ich, daß, wer auch immer die Wahlen gewinnt, die Kraft aufbringt, die Reformen weiter voranzutreiben. Wenn Schröder gewinnt, hat er zwar die konservative Mehrheit des Bundesrates als Antipode, zugleich aber ein erstarktes Mandat durch den Wahlerfolg. Frau Merkel muß die Reformen nach einem Sieg erst recht beschleunigen. Angesichts ihrer doppelten Mehrheit in Bundesrat und Bundestag gäbe es für ein Zaudern in den Geschichtsbüchern keine Entschuldigung. So langsam wie bei der Gesundheitsprämie darf der Entscheidungsprozeß nicht noch einmal ablaufen.

DIE WELT: Frau Merkel hat drei programmatische Punkte anklingen lassen: Arbeit, Wachstum, Freiheit. Was sagen Sie dazu?

Sinn: Arbeit ist das A und O; sie muß an erster Stelle stehen. Wachstum könnte man fast weglassen, weil es sich aus Arbeit und Freiheit ergibt. Aber der Slogan ist schon okay.

DIE WELT: Was wären die programmatischen Kernpunkte, die Sie vom bürgerlichen Lager erwarten?

Sinn: Um Deutschland flottzumachen, braucht es erstens die "aktivierende Sozialhilfe", ein Lohnzuschußsystem bei Geringverdienern, um die Weltmeisterschaft bei der Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten zu beenden. Zweitens brauchen wir die Frührente mit freiem Hinzuverdienst in einem neuen Job. Die Frührente muß so weit gesenkt werden, daß sie den Staat nichts kostet, und sie muß zu einer Art Kombilohn werden, mit dessen Hilfe ein zweiter Arbeitsmarkt mit niedrigeren Löhnen für ältere Arbeitnehmer entsteht. Drittens halte ich es für wichtig, daß die Macht der Gewerkschaften beschnitten wird. Ich will sie nicht völlig entmachten, sondern schlage eine gesetzliche Pflicht für Öffnungsklauseln in Tarifverträgen vor, so daß die Belegschaft eines Betriebes untertariflich abschließen darf, wenn sie glaubt, ihre Arbeitplätze nur so retten zu können. Und viertens: das Thema Kündigungsschutz. In Zeiten der Globalisierung muß sich unser Land dramatisch ändern, Arbeitsplätze müssen aufgegeben werden, wir müssen wandern, um den Strukturwandel zu bewältigen und in dieser schwierigen Welt zurechtzukommen. Spezialisierung setzt Mobilität voraus.

DIE WELT: Haben Sie darüber mit Angela Merkel schon gesprochen?

Sinn: Ja, das habe ich, und ich glaube, sie versteht mich. Aber ich gehöre auch zu den Beratern von Wolfgang Clement. Ich versuche, parteipolitisch neutral zu bleiben.

DIE WELT: Es wird immer wieder die Parallele zwischen Angela Merkel und Margaret Thatcher gezogen.

Sinn: Die Situation in England war dramatischer. Das Pro-Kopf-Einkommen dort war nominal auf die Hälfte des deutschen Wertes gefallen. An diesem Punkt sind wir noch lange nicht. Unsere Schieflage ist vergleichbar mit der von England in den Sechzigern. England brauchte damals noch mal zehn Jahre, um darauf politisch zu reagieren. Ich hoffe, daß uns diese zehn Jahre erspart bleiben. Denn ob wir danach noch die Kraft haben, uns wieder aufzurappeln, wage ich angesichts der demographischen Probleme des Landes - die dann voll zuschlagen werden - zu bezweifeln.

DIE WELT: Es gibt noch einen Reformer, der sich mit Thatcher messen kann: Neuseelands Ex-Premier David Lange. Er meint: "Das Wichtigste an einer Reform ist die Akzeptanz. Die lieben Wirtschaftstheoretiker mögen gute Ideen haben, aber demokratische Gesellschaften sind keine Knetmasse, die man nach Belieben formen kann. Eine Reform muß verstanden werden, sonst gibt es keine Reformen. Ende, aus."

Sinn: Die Neuseeländer haben ihre Reform auch nicht verstanden und waren ziemlich verzweifelt, nachdem vieles zusammenbrach. Neuseeland hatte einige sehr schwere Jahre nach den Reformen. Dann aber war der Tiefpunkt überwunden, und das Land wuchs prächtig. Heute steht Neuseeland blendend da.

DIE WELT: Sie haben einmal, als man Sie fragte, ob Sie nicht in die Politik wechseln wollten, gesagt: Dort könne man nicht mehr sagen, was man denke. Kann eine Kanzlerkandidatin Klartext reden, oder muß sie sich mit vagen Formulierungen die Macht erschleichen?

Sinn: Sie muß es nicht. Wie mutig sie ist, wird man sehen. Bei der Heuschreckendiskussion konnte man erleben, wie sich die CDU, statt Contra zu geben, ängstlich geduckt hat, um ja nicht den Wahlerfolg zu gefährden. Das hat funktioniert, und ich verstehe die Taktik. Doch als Bürger und Ökonom finde ich das unerträglich. Die Parteien müßten sich viel klarer programmatisch äußern, damit man weiß, woran man ist.

DIE WELT: Und noch einmal Lange. Über Politiker sagt er: "Mut ist der Schlüssel. Und Schnelligkeit. Ein Politiker muß entscheiden, ob er es für das Land tut oder für sich. Wenn er unliebsame Reformen vornimmt, muß er bereit sein, sich politisch das Genick zu brechen. Denkt er nur an die Macht, dann ist ihm sowieso nicht mehr zu helfen."

Sinn: Das gefällt mir schon besser. Die nächste deutsche Regierung muß den Mut zum Untergang haben, und zwar in dem Sinne, daß sie unpopuläre Entscheidungen trifft, deren Früchte sie vermutlich nicht in ihrer Legislaturperiode ernten kann. Wir brauchen Überzeugungstäter, wie Margaret Thatcher ja auch einer war. Dazu muß man bereit sein. Mit einem Quentchen Glück wird man trotzdem wiedergewählt.

DIE WELT: Hat Schröder in dieser Hinsicht nicht auch Mut bewiesen?

Sinn: Das hat er. In seiner zweiten Legislaturperiode hat er - getrieben durch Wolfgang Clement - Reformen unternommen, die man ihm in der ersten nicht zugetraut hätte. Die letzten drei Jahre waren ein Einschnitt in der deutschen Geschichte. Die Widerstände waren gigantisch, sie sind es noch.

DIE WELT: Glauben Sie, daß Schröder bei einem Wahlsieg "weiter weitermachen" würde?

Sinn: Sowohl er als auch Clement definitiv, weil sie sich treu bleiben wollen. Es müssen objektiv noch viel mehr Reformen in Deutschland passieren. Wer auch immer an die Macht kommt, weiß das. Am einfachsten wäre es, wenn wir eine Große Koalition hätten, denn dann kann sich die jeweils andere Partei nicht durch Appelle an das Volksgewissen davonmachen.

DIE WELT: Leiden die Deutschen an einem Erkenntnis- oder Umsetzungsproblem?

Sinn: An beidem, aber ersteres wiegt immer noch schwerer. Wir befinden uns in einer Umwälzungsphase, deren Dimension wir noch nicht richtig ausgelotet haben. Da ist zuallererst die Globalisierung als permanenter hochkomplexer und natürlich auch bedrohlicher Prozeß. Die Öffentlichkeit hat den inneren Zusammenhang von Exportboom, Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit noch nicht begriffen, auch manche Ökonomen übrigens nicht. Zudem kommt der europäische Binnenmarkt zum Tragen, der den kleinen Ländern hilft. Die Osteuropäer haben niedrigere Löhne; hier sind die Deutschen im Nachteil, wie auch durch die Lasten der Einheit.

DIE WELT: Ist es in dieser Situation überhaupt möglich, die Deregulierung voranzutreiben?

Sinn: Die Wucht einer ungebremsten Globalisierung überfordert die Toleranz der Deutschen. Es geht alles zu schnell. Aber wie verlangsamt man? Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine ist, Mobilität und Freizügigkeit der Menschen innerhalb der EU einzuschränken. Entsendegesetz und Mindestlöhne gehören auch dazu. Das ist ein Schuß nach hinten, weil das Kapital um so schneller vertrieben wird. So geht es nicht. Besser ist es, die Erweiterung der EU zu verlangsamen. Ich würde jetzt Rumänien und Bulgarien verzögern, die Türkei nicht hereinnehmen und der Ukraine ihre Träume in Orange nehmen. Nicht aus politischen Gründen, sondern aus ökonomischen, um die Wucht der Niedriglohnkonkurrenz zu verringern, vor der ich schon seit zehn Jahren warne. Noch mehr Erweiterung wäre naiv. Wie schwierig der Prozeß der Erweiterung wird, deutet sich heute erst an. Schon wenn ein paar polnische Schlachter rüberkommen, reagiert man hysterisch. Aber das ist erst der Beginn der Lohnanpassung in Europa. Es kommen zur Zeit zu viele Dinge auf einmal. Das ist wie mit den Klößen: Man kann einen essen, einen halben dazu, aber nicht fünf hintereinander - dann wird einem schlecht.

Das Gespräch führten Andrea Seibel und Marcus Heithecker